Harry Styles kleidet sich auf Magazincovers, Instagram oder auf dem roten Teppich gerne feminin oder androgyn – das ist an sich nichts Neues. Nun taucht aber besonders in den sozialen Medien immer wieder der Vorwurf auf, der Schauspieler würde sich lediglich als queer ausgeben. Er sei in der Realität aber heterosexuell und lege sich dieses Image deshalb aus opportunistischen Gründen an.
Dieser Vorwurf hat mittlerweile eine Bezeichnung – und zwar eine, die paradoxerweise früher genau das Gegenteil bedeutete: Queerbaiting. Woher dieser neue Begriff über eine neue Form der Aneignung stammt, was er genau beinhaltet und wieso der Vorwurf «Queerbaiting» auch problematisch sein kann.
Der Ausdruck Queerbaiting existiert eigentlich schon seit geraumer Zeit, nur hat sich seine Bedeutung über die Jahre geändert. Besser bekannt als «Gaybaiting» hat der Begriff seinen Ursprung im Kontext der Unterdrückung von Homosexualität.
In den USA der 50er und 60er Jahre wurde Gaybaiting betrieben, um homosexuelle Menschen vor allem in staatlichen Betrieben oder der Politik auffliegen zu lassen und ihnen – angesichts der Attribute, die man mit Homosexualität verband – damit zu schaden. (Lässt man Gaybaiting übersetzen, wird es von den meisten Programmen denn auch als «Schwulenhetze» übersetzt.)
Man tat das, indem man ihnen eine vermeintliche «Spur» legte oder «Fallen» stellte – zum Beispiel, indem man glaubhaft machte, man sei selber homosexuell – und sie so zu einem Outing bewegte.
Diese Praxis des Denunziantentums verschwand zunehmend. Mark Harris, Autor und Journalist bei der «New York Times», beschreibt allerdings, wie Gaybaiting auch 50 Jahre später noch ein Thema war, wenn auch subtiler:
Nun stehe Queerbaiting – «gay» hat mittlerweile dem inklusiveren «queer» Platz gemacht – sinnbildlich für «eine dieser seltsamen Entwicklungen in der Sprache, bei denen ein Ausdruck schneller, als man es sich vorstellen kann, fast genau das Gegenteil dessen meint, was er früher bedeutete».
Der Begriff richtet sich heute nämlich an die Gegenseite: Queerbaiting in seinem gegenwärtigen Gebrauch beschreibt Handlungen, Bemerkungen oder ein beiläufiges Verhalten von berühmten Personen, die darauf hindeuten sollen, dass sie vielleicht nicht hundertprozentig heterosexuell sind. Indem sie suggerieren, eine® von ihnen zu sein, wollen solche Personen demnach – möglicherweise aus rein kapitalistischen Gründen – ein LGBTQ-Publikum umwerben, obwohl sie selbst eigentlich heterosexuell sind.
Der Vorwurf: Ein Künstler, eine Künstlerin, Schauspieler oder Personen des öffentlichen Lebens nehmen zwar ihre Aufmerksamkeit und ihr Geld gerne – sie bringen der LGBTQ-Community aber am Ende weder echte Repräsentation noch öffentliche Unterstützung.
Insbesondere in den sozialen Medien machen Vertreter und Vertreterinnen der LGBTQ-Community ihrem Ärger seit einiger Zeit Luft. Die berühmtesten Fälle von Personen, denen Queerbaiting vorgeworfen wird, sind zumeist männlich, Schauspieler – und eben nicht (oder zumindest nicht offen) homo- oder bisexuell.
“how does he make it all look so easy”
— soppey (@soppeyy) August 22, 2022
well when you market yourself to a specific audience (the LGBTQ community) and try to sympathise with their struggles by claiming you’re ‘bi’ you begin to sell better.
i’m tired of his queer-baiting and HETEROSEXUAL self.
Allerdings spielten einige von ihnen schon schwule Männer in Filmrollen: zum Beispiel Harry Styles, der in «My Policeman» (2022) einen homosexuellen Polizisten in den 50er Jahren verkörpert. Oder Timothée Chalamet, der als noch nicht geouteter schwuler Teenager, der sich unter der Sonne der Toskana in einen älteren Mann verliebt, seinen absoluten Durchbruch in Hollywood feierte («Call Me By Your Name», 2017).
Beide zeigen sich auch in der Öffentlichkeit gerne feminin und beide bringen zum Ausdruck, dass einem Festlegen der sexuellen Orientierung oder auch der eigenen Identität ihnen zufolge zu viel Wichtigkeit beigemessen wird:
Vielleicht meinte auch James Franco etwas Ähnliches, als er als Folge von öffentlichen Spekulationen sich selbst in einem «Interview» zu seiner Sexualität befragte. Allerdings hat es der Schauspieler wohl etwas übertrieben, als er seine eigene Frage, ob er denn nun schwul sei, so beantwortete:
Kurz darauf wurde Franco – wohl als einem der ersten – «Celebrity Queerbaiting» vorgeworfen. 2008 (in «Milk») und 2011 (in seiner Masterabschlussarbeit «Broken Tower») hatte der heute 44-Jährige jeweils eine Filmrolle als Homosexueller. In der Folge zeigte er sich auch in den sozialen Medien teilweise zweideutig, was seine Sexualität betraf, und gab beispielsweise an, mit einem Mann zusammenzuwohnen.
Als er sich im angesprochenen Interview schliesslich als hetero «outete», kam das nicht gut an – und umso weniger seine Erklärung:
Schauspieler und Sänger Styles äusserte sich zwar nicht in diese Richtung. Trotzdem war auch er Thema in den sozialen Medien, als ein Sketch von «Saturday Night Live» viral ging. Darin spielt Styles einen schwulen Social-Media-Manager, der es mit seinen Posts über Dreier oder der Frage: «Warum flippen Jungs aus, wenn ich sie bitte, mir in den Mund zu spucken?» etwas übertrieben hatte.
Wäre Harry Styles homosexuell, hätten Witze wie solche keinerlei Implikationen. «New York Times»-Autor Mark Harris stellte sich nun aber die Frage: Was, wenn er es nicht ist? Hätte er da vielleicht eine Grenze überschritten? Indem er ein Gebiet betrat, das ihm nicht gehörte? Oder indem er «sich über uns lustig macht»? Oder gar indem er sich über «uns lustig macht und von unserer Neugierde auf ihn profitiert»?
«Wir befinden uns, historisch gesehen, immer noch in den Anfängen eines Zeitalters, in dem schwule Künstler ihre Arbeit machen können, ohne zu lügen oder sich zu verstecken», schreibt Mark Harris. In diesem Zusammenhang sei die Vorstellung, dass ein Hetero-Künstler Homosexualität grundsätzlich «nachspielen» könne, weil er glaubt, dass LGBTQ-Leute jetzt in Mode seien, «ziemlich abstossend».
Angenommen allerdings, jemand ist tatsächlich queer (also egal, ob schwul, bisexuell, trans usw.). Dann eröffnet sich mit dem Vorwurf des Queerbaitings eine Problematik, mit der sich queere Menschen seit jeher konfrontiert sehen: der des Outings. Und dieses Thema dürfte als Person des öffentlichen Interesses umso komplizierter sein. Und so werden Promis wie Harry Styles, der sich nach wie vor nicht über seine Sexualität äussern will, vor dem Vorwurf des Queerbaitings auch in Schutz genommen.
Random thought: The obsession with Harry Styles' sexuality fascinates me, because it's where a new generation's golden rule--sexuality is fluid, you can choose from dozens of identities, etc.--crashes into an older rule: Tell us who you are so we can decide what we think of you.
— Mark Harris (@MarkHarrisNYC) September 3, 2022
Dazu schreibt zum Beispiel das Magazin «GQ»: Wenn man wisse, welche Auswirkungen das auf die Normalisierung von LGBTQ-Personen hat, könne mehr Repräsentation und Sichtbarkeit in den Medien eigentlich nur gut sein. Das sei in den letzten Jahren wohl nie wichtiger als jetzt gewesen, «da die Gegenreaktion gegen Queer zu köcheln scheint». Aber: «Wenn wir über jemanden wie Styles sprechen, spekulieren wir über eine reale Person des öffentlichen Lebens, die, auch wenn ihr Berühmtheitsstatus in den Köpfen der Fans etwas anderes suggerieren mag, niemandem gehört.»
Dem Vorwurf des Queerbaitings musste sich kürzlich auch Schauspieler Kit Connor stellen. Der 18-Jährige spielte in der Netflix-Serie «Heartstopper» einen Teenager, den es einige Zeit und Überwindung kostet, sich als bisexuell zu outen.
Nachdem Connor sich in der Öffentlichkeit jedoch händchenhaltend mit einer Frau zeigte, warfen ihm User auf Twitter Queerbaiting oder dass er sich selbst «auf eine queere Art und Weise projiziert» vor. Die Folge: Der Schauspieler löschte seinen Twitter-Account, nur um nach sieben Wochen mit einem Tweet zurückzukehren:
In derselben Situation sah sich der Grammy-nominierte R'n'B-Sänger Omar Apollo. Auch er fühlte sich genötigt, auf Twitter seine sexuelle Orientierung preiszugeben. (Oder zumindest anzudeuten; Apollo erklärte in einem kurzen, schlecht zitierbaren Satz, dass er durchaus gewisse sexuelle Handlungen an Männern durchführe.)
Autor Mark Harris erklärt sich die Problematik des Queerbaiting-Vorwurfs mit einem Widerspruch innerhalb der Generation Z: Es gebe eine «Kollision zwischen der Sexualität der Generation Z, die sehr flexibel ist, und ihrer Einstellung zur Kultur, die das nicht ist.» Damit meint er zum Beispiel die Überzeugung, dass Aneignung immer falsch ist, oder den überaus hohen Stellenwert von Authentizität.
Dieser Widerspruch kann dazu führen, dass sich ein Mensch gezwungen fühlt, seine Sexualität einerseits überhaupt erst zu definieren, und andererseits diese auch noch öffentlich mitzuteilen. So erklärte Harry Styles in einem Interview, seine Sexualität sei eines der wenigen Dinge, die er noch privat halten könne.
Auf diese Weise kommt auch Mark Harris in der «New York Times» zum Schluss: «Es ist problematisch, von allen zu verlangen, dass sie sich ‹outen› und sichtbar sind.»
Darf ich als Frau keine Hosen mehr tragen ausser wenn ich lesbisch bin?
Lgbtq hat jahrelang dafür gekämpft die Geschlechterrollen/Identitäten aufzulockern, und beschweren sich jetzt, wenn sich jemand nicht in eine Kategorie stecken lassen möchte?
Meiner Meinung nach eine sehr toxische Entwicklung, die an die alten Rollenbilder erinnert.
Und Thema gegessen. Artikel braucht es dazu auch keine weiteren mehr.
Aus diesem Grund geriet ich auch schon in die völlig abstruse Situation, in der mir heterosexuelle LTBTQ "Aktivisten" vorgeworfen haben, ich würde der Sache mit meiner Anpassung schaden.
Lässt mich eigentlich kalt, aber es zeigt mir, dass in gewissen Kreisen im Moment wohl auch noch die letzte Vernunft verloren geht🤦🏻♂️