Im Hotel Baur au Lac herrscht wie immer diese bestimmte Stimmung: Britischer Landgut-Charme trifft auf Dubai-Gucci-Glamour. Und niemand könnte besser in diesen adelig-edlen und doch ins Casinoartige abschweifenden Rahmen passen als Jessica Chastain. Eine Frau aus Glanz, Porzellan und Sonnenuntergang. Eine aus den Treibhäusern einer jahrhundertealten Dynastie. Denkt man sich. Und man denkt falsch.
Als Jessica Chastain 1977 in Sacramento zur Welt kam, waren ihre Eltern beide orientierungslose Teenager. Der Vater war Rockmusiker, die Mutter wurde sehr viel später eine vegane Köchin, Vater und Tochter waren einander entfremdet, in Chastains Geburtsurkunde ist kein Vater verzeichnet. Ihre Kindheit war hart, sie stand oft hungrig vom Tisch auf, ihre Schwester war drogensüchtig und nahm sich mit zwanzig Jahren das Leben. Ein Lichtblick war der Stiefvater, ein Feuerwehrmann, bei ihm fühlte sie sich sicher.
Ansonsten ging sie ins innere Exil: «Die anderen Kids rauchten und tranken und ich las Shakespeare.» Dass sie Schauspielerin werden will, weiss sie, als ihre Oma die Siebenjährige mit in ein Musical nimmt. Sie spielt Theater, gewinnt ein Stipendium für Juilliard, die wohl weltbeste Schule für performative Künste. Ihr Debüt vor der Kamera macht sie in der Spitalserie «Emergency Room». Daneben: Theater, Theater, Theater, denn im Film wird sie selten besetzt, ihre roten Haare sind ein Problem.
Doch 2006 sitzt die Schweizer Schauspielerin Marthe Keller im Publikum: Keller ist total begeistert und legt die verletzliche junge Frau mit dem starken inneren Licht und einer Stimme, die immer nach frischen Orangen klingt, ihrem Freund Al Pacino ans Herz. Der inszeniert gerade Oscar Wildes «Salome» fürs Theater und hat noch keine Titelheldin, und natürlich ist Chastain perfekt als irrlichternde Schleiertänzerin, die den Kopf von Johannes dem Täufer fordert. Al Pacino empfiehlt sie seinem Freund Terrence Malick, der besetzt sie 2011 neben Brad Pitt in «The Tree of Life» – und fertig ist die grosse Hollywoodkarriere.
Ein Jahr später wird sie als Südstaatlerin in «The Help» für einen Oscar nominiert, wieder ein Jahr später als CIA-Analytikerin auf der Jagd nach Osama bin Laden in «Zero Dark Thirty», 2022 gewinnt sie ihn schliesslich als groteske TV-Predigerin Tammy Faye in «The Eyes of Tammy Faye». Dazwischen: Science Fiction wie «Interstellar» und «The Martian» oder die Hochglanz-Hochstaplerinnenkomödie «Molly's Game» oder die sensationell traurige Miniserie «Scenes from a Marriage». Chastain kann alles.
Und jetzt sitzt sie vor uns, in einer Suite des Baur au Lac, ihre Starstrahlkraft ist umwerfend, noch nie sah ein schlammfarbiger Anzug so gut aus, denn die Frau, die drinsteckt, leuchtet und lodert in einem. Alles in ihr ist immer in Bewegung – die Augen, der Mund, die Hände, das Haar stehen unter einem feinen, konstanten, jedes Chastain-Molekül zum Vibrieren bringenden Strom.
Ausgerechnet hier am Zurich Film Festival, wo jedes Fähnchen der Eitelkeit hochgehalten wird, ist sie nach «The Good Nurse» von Tobias Lindholm wieder mit einem ihrer «ungeschminkten» Filme präsent. Im Netflix-Film «The Good Nurse» (ihr Filmpartner Eddie Redmayne war damit am ZFF zu Besuch) spielte sie eine schwer kranke Krankenschwester, die einen Serienkiller zum Geständnis seiner Taten bewegt.
In «Memory» verkörpert sie nun die schwer traumatisierte, ex-alkoholabhängige Sozialarbeiterin Sylvia. Sie leidet unter einer Putzneurose und unter äusserst unzuverlässigen Erinnerungen. Und eines Tages verliebt sie sich in einen Mann mit Demenz (Peter Sarsgaard wurde mit der Rolle des Demenzkranken in Venedig als bester Schauspieler ausgezeichnet). Ein inniges Sozialdrama des mexikanischen Regisseurs Michel Franco.
Jessica Chastain, was ist es, das Sie ausgerechnet zu Rollen wie in «The Good Nurse» und «Memory» hinzieht?
Sie meinen zu diesen rohen, ungeschminkten, unprivilegierten, verletzlichen, sehr interessanten Frauenrollen? Das waren die Regisseure! Tobias Lindholm und Michel Franco. Bei «The Good Nurse» war ich froh, dass es sich nicht schon wieder um die Fetischisierung eines sexy Serienmörders handelte, ich halte das nicht mehr aus, ich finde das echt ekelhaft und verstörend. In beiden Filmen schaffen es meine Figuren, am Ende etwas Gutes zu erwirken, etwas Licht und Leichtigkeit ins Dunkle zu bringen. Ich bin ein positiver Mensch, ich glaube an das Gute im Menschen, ich habe ein abenteuerliches Herz, ich mag es, wenn sich etwas vorwärts bewegt.
Kamen die Regisseure zu Ihnen oder umgekehrt?
Ach, das lief über meine Agentur. Wissen Sie, es gibt im Leben eines Hollywoodstars den Moment, in dem man zu gross ist für die wirklich interessanten Regisseure und Regisseurinnen. Sie denken sich dann: Die ist zu schwierig, die hat zu hohe Ansprüche, ist zu teuer, eine Zicke, lässt uns im letzten Moment im Stich ...
Okay, dies ist ein Aufruf an wirklich interessante Regieschaffende: Jessica Chastain will möglicherweise mit euch arbeiten!
Ja!
Wozu sagen Sie Nein ausser zu sexy Serienmördern?
Ich finde Klischees äusserst langweilig. Und mich interessiert zuerst, wer die Regie macht. Als ich jung war, merkte ich, dass alle Regisseure, die mir nah waren, überhaupt keine Filme über Frauen drehten. Das musste ich erstmal schlucken, das war hart, dann habe ich mich dafür eingesetzt, dass sich das ändert.
Ihre Sylvia in «Memory» haben Sie zu grossen Teilen mitgestaltet.
Ja, ich muss eine Figur immer aufbauen, muss einen kreativen Kern finden, der in mir keimt, dann wird ein ganzer Mensch daraus. Ich habe für sie Erinnerungen erfunden, habe ihr eine Geschichte vor ihrem Alkoholentzug gegeben. Wir alle kennen Frauen, die Überlebende von sexuellem Missbrauch sind, ich kenne ein paar entsetzliche Geschichten und habe zusätzlich mit der Unterstützung von Hilfsorganisationen recherchiert. All das habe ich mir angeeignet – und musste es beim Dreh vergessen, so selbstverständlich musste es werden.
Was war der kreative Kern bei Sylvia?
Das bleibt mein Geheimnis. Ich behalte es gerne für mich, an welcher Kreuzung sich eine Figur und ich treffen.
Stimmt es, dass Sie für Sylvia einkaufen gingen?
Ja, wir haben in Nashville gedreht, wir hatten wenig Geld und Zeit und keinerlei Kostüme. Ich sagte: Sylvia würde hier in einem Discounter einkaufen gehen, lasst mich das machen. Ich gab mir ein realistisches Budget von 130 Dollar, ging zu Target und fragte mich, was würde Sylvia wählen? Ich kenne Target gut, ich gehe da jede Woche hin, um für meine Kinder Kram zu kaufen, denken Sie bloss nicht, dass für einen Hollywoodstar alles nur noch teuer und besonders sein darf. Ich tue immer alles für meine Figuren. Ich will nicht, dass ein Drehbuch für mich abgeändert wird, ich will mich für ein Drehbuch verändern.
Und was zählt für Sie beim Dreh?
Man verhält sich so, wie man von jemandem behandelt wird. Michel Franco zum Beispiel behandelt mich mit so viel Respekt, Freundlichkeit und Fürsorge, dass ich mich immer beschützt und sicher fühle. Und das gibt mir die Kraft, Dinge zu spielen, die ich mir sonst gar nicht zutrauen würde. Ich weiss, dass er mir hilft. Und so habe ich mich auch dem Serienmörder in «The Good Nurse» und dem Demenzkranken in «Memory» angenähert. Man muss jemanden mit Liebe anschauen. Immer von Neuem. Und neugierig.
Wie war das, als Peter Sarsgaard in Venedig seinen Preis gewann?
Oh, wir haben viel gefeiert! Der Preis war so verdient! Peter ist ein grossartiger Schauspieler und schon so lange im Business, aber er ist immer derart damit beschäftigt, die anderen zu unterstützen und strahlen zu lassen, dass er selbst gar nie so richtig zum Strahlen kam. Als Michel mich fragte, wen ich mir als Partner in «Memory» wünsche, war sich sehr aufgeregt, denn endlich konnte ich «Peter Sarsgaard!!!» sagen.
Sie sind schon seit je eine feministische Aktivistin. Können Sie den Moment beschreiben, als Ihr Engagement erwachte?
Meine Kindheit hat mich geformt. Ich wusste schon sehr früh, dass ich jede Plattform, die sich mir bieten würde, egal, ob das die Schauspielerei oder eine andere sein sollte, dazu verwenden würde, mich für schwächere, ungerecht behandelte Menschen einzusetzen. Und meistens waren das Frauen.
Hatten Sie ein Vorbild?
Nein. In einer öffentlichen Schule in Amerika gab es in meiner Kindheit keine weiblichen Vorbilder für Mädchen. Kein Geschichtsbuch widmete sich dem Heldentum von Frauen. Und jetzt ist es noch schlimmer: Geschichtsbücher werden gereinigt und zeigen unsere Geschichte nur noch aus einer Perspektive, der Perspektive der Sieger. Das ist nicht Geschichte. Und das ist ein Missbrauch an unseren Kindern.
«Memory» läuft ab dem 6. Juni im Kino.
Die Fragen dieses Interviews stammen von mehreren Journalistinnen und Journalisten und wurden im Rahmen eines Roundtables am Zurich Film Festival am 1. Oktober 2023 gestellt.
Das macht eine gute Schauspielerin aus, diese Wandelbarkeit. Ich bin sehr gespannt auf "Memory" und werde "The Good Nurse" auf jeden Fall mal noch streamen!
Würde interviewen! 👍