Unglaublich! Anne Hathaway spielt eine Frau (40!), die fast so alt ist wie sie selbst (41!!)! Im Film «The Idea of You» ist sie die erfolgreiche Galeristin Solène, und diese Solène begleitet ihre Tochter nach Coachella. Dort verknallt sie sich in den 24-jährigen Popstar Hayes, und er sich in sie und das, obwohl gerade Popstars in JEDEM ALTER JEDE JUNGE FRAU haben könnten. Till Lindemann (61) datet jetzt eine Zwanzigjährige. Alles beim Alten bei den alten Männern.
Aber 16 Jahre Unterschied zwischen Solène und Hayes, uiuiui, da fällt schon sowas wie ein «letztes Tabu». Jedenfalls habe ich irgendwo gelesen, der Film «The Idea of You» würde hart am letzten Tabu – Frau ist älter als Mann – kratzen. Und das «Time»-Magazin schreibt allen Ernstes: «In ‹The Idea of You› geht es um die ultimative Fantasie einer Frau mittleren Alters: gesehen zu werden.»
Das heisst nun zwei Dinge: Erstens handelt es sich bei diesem Film um eine Wunscherfüllungsmaschine für Frauen im mittleren Alter. Zweitens kann nur eine Frau im mittleren Alter so einen Stoff erfunden haben, sicher kein Mann. Was stimmt, die Schauspielerin Robinne Lee schrieb den Roman «The Idea of You» mit 42 Jahren und landete damit einen Weltbestseller. Im Buch ist Hayes übrigens erst 20, für die Verfilmung (durch einen Mann) schien das dann doch krass unrealistisch.
Das «mittlere Alter» beginnt übrigens mit 35 und endet mit 65, vorher ist man jung, nachher alt, und Anne Hathaway wurde einst vorausgesagt, dass ihre Karriere mit 35 unwiderbringlich vorbei sein werde, weil das in Hollywood eben einfach so sei. Sie hat ihr eigenes Haltbarkeitsdatum also schon radikal überschritten.
Genau so wie die irische Schauspielerin Nicola Coughlan mit ihren 37. In der Regency-Romanze «Bridgerton» spielt sie die ebenso betörende wie scharfsinnige 19-jährige Penelope Featherington.
Coughlan hatte bereits Anfang dreissig in «Derry Girls» eine halb so alte Figur gespielt, doch damals hatte ihr Alter niemanden interessiert, denn «Derry Girls» war rough, laut und komisch und keine ultimativ romantische Fantasie wie «Bridgerton». Jetzt, da Penelope die romantische wie auch die intellektuelle Heldin der dritten Staffel ist, war die Verblüffung gross: Waaaas, so gut kann eine mit 37 noch aussehen, ist in dem Alter nicht schon alles vorbei? Dies war der Tenor auf den sozialen Medien.
Doch Coughlan nahm es cool. Schliesslich hatte sie die Aufmerksamkeit auf ihr wahres Alter selbst provoziert. Weil sie im Gegensatz zum Fat-Shaming, das sie auch schon erlebt hatte, jetzt die Oberhand über das Urteil anderer haben wollte.
Das Fat-Shaming hatte zur Zeit von «Derry Girls» zugeschlagen – nicht etwa vom Publikum, sondern von renommierten Kritikern, die sie in den Medien als «übergewichtiges kleines Mädchen» oder «fettes Mädchen» bezeichneten. Damals schrieb sie im «Guardian» einen Hilferuf: «Kritiker, beurteilt mich nach meinen Rollen und nicht nach meinem Gewicht!» Damals wurde ihr auch dazu geraten, ihr wahres Alter nur ja nie allzu deutlich in der Öffentlichkeit zu Markte zu tragen, «fett» UND «alt» wäre der Todesstoss für ihre Karriere.
Vor dem Start der dritten Staffel «Bridgerton» schrieb sie deshalb in «Harper's Bazaar»: «Zum Glück habe ich einen idiotensicheren Weg gefunden, um als Frau in der Filmbranche nicht ständig unter gründlicher Beobachtung zu stehen! Du musst bloss diese einfachen Regeln befolgen:
1. Sei für immer 22 Jahre alt. Leider darfst du nicht älter werden, und wenn du versuchst, dem Prozess mit Botox oder Fillern entgegenzuwirken, werden die Leute sagen, das sei schlecht, weil du Angst vor dem Altern hättest. Stattdessen schlage ich vor, sich kryogenisch einfrieren und nur auftauen zu lassen, wenn es sich wirklich lohnt.
2. Entspreche einer Idealgrösse. Und wenn ich von einer idealen Grösse rede, musst du wissen, dass die Kamera fünf Kilos hinzufügt, ideal ist also eigentlich eine Grösse unter der Idealgrösse. Wenn du dich aus irgendeinem Grund nicht an diese Regel halten kannst oder willst, schlage ich vor, dass du sich damit abfindest, in jedem Interview über deine Figur und nicht über deine Arbeit sprechen zu müssen.»
3. Du brauchst eine strahlende Persönlichkeit. Aber nicht zu viel Persönlichkeit! Und denk daran, dass in unserer Branche Männer möglicherweise nicht gecancelt werden, obwohl sie jemanden missbraucht haben. Dass aber Frauen gecancelt werden, weil sie mal in einem Interview etwas leicht Unangenehmes gesagt haben. Seid auf der Hut, Schwestern!»
Das klingt bei aller Ironie wie America Ferraras Monolog in «Barbie» über die unmöglich zu erfüllenden Anforderungen ans Frausein.
2008 spielte Meryl Streep (damals 59) zum ersten Mal die Donna in «Mamma Mia!». Der «Guardian» beschrieb die «grösste Überraschung» des Films so: «Es ist die Tatsache, dass sie älter ist als ihre drei Hauptdarsteller – der 55-jährige Pierce Brosnan, Stellan Skarsgard, 57, und Colin Firth, zarte 47 Jahre alt.» Der Titel des Artikels lautete: «Meryl Streep: Alt genug um ihre Mamma Mia! zu sein». Er war zum Glück nicht ernst gemeint, er war ein Zitat aus «Die Reifeprüfung» von 1967. Dustin Hoffman spielte da einen 21-Jährigen, Anne Bancroft die erotisch noch immer satisfaktionsfähige Mittvierzigerin Mrs. Robinson, die zu ihrem Loverboy sagt: «I'm old enough to be your mother.» In Wirklichkeit war Bancroft nur sechs Jahre älter als der damals dreissigjährige Hoffman. Eine echte Mittvierzigerin wäre in dieser Rolle noch undenkbar gewesen.
Die Frau, das Alter und der Film sind schon immer und immer noch ein Thema und werden, seit es Filme gibt, immer und immer wieder diskutiert, und jeder Tag, an dem Pamela Anderson ihr Haus ungeschminkt verlässt, ist ein guter Tag für die Frauen in der Branche. Eine Schauspielerin soll ihr Alter vertuschen oder fürchten, sobald sie die Zwanzigerzone verlassen hat, und der Altersunterschied zwischen Solène und Hayes wird in «The Idea of You» mindestens so offensiv diskutiert wie der in «Die Reifeprüfung», wenn auch mit einem zeitgemässeren Verlauf.
«Als Schauspielerin ist dein Körper ein Geschenk», hatte Nicola Coughlan 2018 geschrieben, ein Gefäss, das niemals alle, aber viele Rollen zu fassen vermag. Und jede Rolle ist eine Fantasie. Manche gar eine «ultimative».
«Bridgerton» und «Derry Girls» laufen auf Netflix, «The Idea of You» auf Amazon Prime.
Verdammt gute Gene, sage ich da nur.