Harvey Weinsteins Kernzitat lautet: «I'm glad I'm the fucking sheriff of this shit ass fucking town.» Zum Glück bin ich der Sheriff dieser beschissenen Scheissstadt. Also von Los Angeles. So lange er dort als visionärer Produzent die Filmindustrie regierte, machte er seine Gesetze selbst. Nahm sich, was und wen er wollte. Sorgte mit einem bedrohlichen Mafia-System dafür, das jahrelang niemand gegen ihn vorging, auch die Medien nicht. Und missbrauchte unzählige hoffnungsvolle junge Frauen. Bis im Herbst 2017 durch zwei Aufsehen erregende Recherchen im «New Yorker» und in der «New York Times» alles aufflog und MeToo in Hollywood Einzug hielt.
Ursula Macfarlane hält in ihrem scheinbar unspektakulären, im Nachhall jedoch äusserts schmerzhaften Film eine Lupe auf mehrere Jahrzehnte der Weinstein-Diktatur. Ich traf sie während des Zurich Film Festivals, es war ein ausnehmend schöner, lieblicher Sonntagnachmittag. Unser Gesprächsthema war es nicht.
Sie arbeiten seit gut zwanzig Jahren als Filmemacherin. Was wussten Sie vor den MeToo-Enthüllungen im Herbst 2017 über Harvey Weinstein?
Ursula Macfarlane: Ich wusste, dass er ungehobelt, aggressiv und sehr laut war. Einer, der sich für den Sheriff hält. Eine Freundin von mir, eine Übersetzerin, war bei einem Treffen von ihm und dem italienischen Regisseur Nanni Moretti in London dabei. Sie sassen im Sitzungszimmer eines Hotels, Harvey bestellte Sushi aus einem richtig teuren Restaurant, nahm einen Bissen, sagte: «Oh, this is fucking shit!» Und spie den Bissen mitten auf den Tisch.
In Ihrem Film hören wir, wie Weinstein auf einer Aufnahme sagt: «Das ist normal. Alle machen das.» Also, Frauen zu bedrängen.
Als MeToo geschah, war ich nicht überrascht, aber geschockt. Ich meine, wir kennen alle den Mythos «Casting-Couch», den gibt es seit Jahrzehnten. Schauspielerinnen schlafen mit Produzenten oder Regisseuren für einen Job. Wir bildeten uns ein, dass die Casting-Couch einvernehmlich geschah. Beide Seiten hatten etwas davon. Es gehörte irgendwie dazu. Seit MeToo wissen wir, dass viele dieser Frauen gezwungen, ja regelrecht angegriffen wurden.
Bei Weinstein geschah dies mit einem sadistischen System.
Er suchte sich gezielt schwache, unsichere Frauen aus, die er mit aller Macht zu zerstören versuchte. Eine seiner grössten Waffen war Gwyneth Paltrow. Er prahlte bei jeder möglichen Gelegenheit damit, dass er mehrfach mit ihr Sex gehabt habe, und machte sich damit junge Frauen gefügig. In Wirklichkeit hat er sie einmal attackiert, sie rannte davon und Brad Pitt drohte ihm.
Wieso wollten Sie überhaupt einen Film über ihn machen? Wieso wollten Sie so viel Zeit mit ihm verbringen?
Mir wurde dies als Auftrag angeboten und ich zögerte keine Sekunde. Für mich als Frau und als Mensch ist dies eine der wichtigsten Geschichten unserer Zeit. Ich redete mit meiner Familie, meinen Freunden, und jede Frau – auch ein paar Männer – hatten solche Geschichten in verschiedenen Schattierungen erlebt. Vielleicht nicht gerade Vergewaltigung, aber sexuelle Belästigung und Sexismus. Plötzlich wurde der Stoff zu meiner Geschichte, zu der meiner Schwester, zu der meiner Freundinnen. Wir teilen das alles.
War es sehr schwierig, die Betroffenen vor die Kamera zu kriegen?
Es brauchte viel Feingefühl. Einige fanden wir, weil sie irgendwo kleine Interviews gegeben hatten, andere über Empfehlungen von Dritten. Ich redete viel mit ihnen, skypte, wir mussten in erster Linie Vertrauen schaffen. Natürlich half es da, dass die BBC mit an Bord war und nicht irgendein Boulevardformat. Es war ein sehr diffiziler Prozess: Wir redeten und redeten, es war traurig und verstörend, irgendwann fragte ich: «Bist du jetzt bereit, vor die Kamera zu treten?»
Und dann erzählten sie, wie sie erniedrigt oder gar vergewaltigt wurden.
Eine hatte ihrem Mann nichts davon erzählt. Eine andere, die Weinstein vor gut vierzig Jahren kennen lernte, hatte seit vierzig Jahren nicht darüber gesprochen. Sie waren beschämt und traumatisiert. Und jetzt waren sie bereit, vor einer Kamera zu reden. Wir bauten einen kleinen Raum, in dem sie nur mir und der Kamera gegenüber sassen, alle anderen befanden sich hinter schwarzen Vorhängen. Ich hoffte, dass sie sich entspannen konnten, aber es war trotzdem erneut traumatisch.
Am Ende hatten Sie Berge von sensiblem Material gesammelt.
Mit dem wir sehr vorsichtig umgehen mussten, nichts durfte geleaked werden, auch aus juristischen Gründen. Alle unsere Dokumente waren mehrfach passwortverschlüsselt, wir benutzten immer neue Telefonnummern und Kommunikationsplattformen.
Die Schauspielerin Nannette Klatt erzählt, wie er verlangte, dass sie ihm ihre Brüste zeige. Sie weigert sich und rennt davon. Er hat das ganze Stockwerk verriegeln lassen. Ihr einziger Ausweg ist ein stockdunkles Treppenhaus. Nannette Klatt ist nachtblind, sie sieht bei Dunkelheit nichts. Dass sie sich während der Flucht nicht das Genick bricht, ist ein Wunder.
Am meisten erschüttert hat mich Paz de la Huerta. Sie beschreibt ja nicht nur, sie analysiert auch. Als würde sie über sich selbst schweben. Was es noch trauriger macht. Als hätte Weinsteins sie ganz existenziell gebrochen.
Ja, das sehe ich auch so. Ihre Geschichte ist irrsinnig traurig. Sie ist sehr zerbrechlich und es gibt noch mehr in ihrem Leben, was schief läuft. Aber sie hatte im Grunde eine gute Karriere, sie arbeitete in «Boardwalk Empire» – und kurz darauf wurde sie vergewaltigt.
Von Weinstein.
Ja.
Also nach «Boardwalk Empire»?
Nein, während. Und dann ist sie ausgestiegen.
Wegen der Vergewaltigung?
Ja. Weil sie deshalb zur Alkoholikerin wurde. Was sie noch verletzlicher machte. Sie konnte damit überhaupt nicht umgehen. Und dann vergewaltigte er sie wieder.
Weinstein. Zwei Mal?
Zwei Mal.
Im Film ist «nur» von einem Mal die Rede.
Im Film durften wir aus juristischen Gründen erst über das erste Mal sprechen. Es gibt heute ja diese Tendenz, den Opfern die Schuld zu geben. Weil sie vielleicht schwach sind, weil sie nicht gesellschaftskonformes Verhalten zeigen, weil sie trinken oder Drogen nehmen und man sie deswegen als instabil abstempelt. Natürlich sind sie instabil! Sie sind ja vollkommen traumatisiert!
«Du hast ein glückliches Gesicht gemacht. Aber innerlich stirbst du. Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Sexualität wieder zurückgewinnen musste, also wollte ich Fotos machen, auf denen ich mich schön fühle. Ich wollte es rückgängig machen. Ich wollte mich wieder begehrenswert fühlen», sagt Paz de la Huerta.
Was ich vor Ihrem Film nicht wusste, war, welche ungeheuren Aufwand Weinstein im Vorfeld der Enthüllungen im «New Yorker» und in der «New York Times» betrieb, um die Frauen, die gegen ihn aussagten, in der Öffentlichkeit noch mehr zu diskreditieren. Dass er dafür mit ehemaligen Mossad-Agenten zusammenarbeitete, gezielt Gerüchte lancierte, sie ausspionierte. Und alles, um den Skandal zu vermeiden.
Ich wundere mich, dass er in dieser Zeit überhaupt irgendeine Art von Arbeit zustande brachte. Er brauchte diese Taktik ja auch Journalisten gegenüber, er setzte mehrere Spione auf Rose McGowan und Rosanna Arquette an. Man muss sich das vorstellen: Da hat man schon das Trauma des Angriffs hinter sich und erfährt dann, dass einem der gleiche Mann auch noch Spione auf den Hals hetzt. Ich hätte an ihrer Stelle das Haus nicht mehr verlassen, ich wäre so terrorisiert gewesen.
Welchen neuen Aspekt wollten Sie mit Ihrem Film eigentlich in die Debatte bringen?
Wir wollten so viel wie möglich über die Komplizenschaft erzählen. Was ungeheuer schwierig war. Wir fanden fast niemanden, der sagen wollte: Ja, ich habe es gewusst, ich habe weggesehen, ich bin mitschuldig.
Sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden?
Hätten wir mehr Zeit gehabt, so hätten wir sicher mehr Leute dazu bringen können, Agenten, Anwälte, Mitarbeiter. Das Problem ist, dass diese zwar in der «New York Times» zitiert werden konnten, weil man im Print mit anonymen Quellen arbeiten darf, aber vor einer Kamera ist man nicht anonym. Die Leute hatten Angst. Weinstein hatte ein gut funktionierendes Mafia-System aufgebaut.
Weinsteins Ex-Assistentin Zelda Perkins erzählt, wie sie ihren Boss massieren musste. Wie er in seinem Hotelzimmer nackt telefonierte. Und wie er nicht sie, aber ihre Freundin vergewaltigte. Beiden Frauen gab er je 250'000 Dollar Schweigegeld. Gegen eine Geheimhaltungsvertrag. Hätten sie auf die Idee kommen sollen, mit einem Therapeuten über das Geschehene sprechen zu wollen, so hätte auch dieser einen Geheimhaltungsvertrag unterzeichnen müssen. Und so weiter.
Er und ein paar andere sind gefallen. Was ist Ihre Hoffnung?
Dass sich Leute den Film anschauen und sich sagen: Okay, das ist nicht nur Hollywood, das ist eine universelle Geschichte. Dass sie sich in ihren Familien, Freundeskreisen und Firmen umsehen und aufstehen, wenn eine Unrecht geschieht. Ich bin mir sicher, dass es durch den Fall von Weinstein einfacher geworden ist, darüber zu reden.
Trump, der Mächtigste von allen, sitzt immer noch im Weissen Haus.
Trump macht mich irrsinnig wütend. Es gab Frauen, die langsam bereit waren, gegen ihn auszusagen, das weiss ich. Und dann sind sie wieder verstummt, wurden mundtot gemacht. Was ist die Botschaft von Trump im Weissen Haus? Dass du alles tun kannst und damit durchkommst! Und was ich am wenigsten verstehe, sind all die Frauen, die ihn gewählt haben.
«Untouchable» läuft ab 17. Oktober im Kino.
Ich frage mich, warum sich nicht mehr männliche Hollywoodgrössen, gegen ihn gestellt haben, wie er 🤔
Bei Männern ist es etwas einfacher als bei Frauen.
Weinstein ist diesbezüglich ein "Prachtsexemplar". Auch die Story mit dem ausgespuckten Sushi vom Edelrestaurant erstaunt mich überhaupt nicht.
Ob sich etwas geändert hat "dank" Weinstein?
Nicht wirklich. Aber die Männer in Positionen wie Weinstein können nun nicht mehr ganz so aggressiv und öffentlich vorgehen.
Das Grundproblem "Schönheit im Austausch gegen Macht/Geld" und ein damit verbundenes Rollenverständnis bleibt bestehen.
Und wirklich schizophren sind all die ach so bibelgläubigen Wähler, die ihn gewählt haben. Tritt Trump doch jeden Wert mit Füssen, den diese Leute sonst so gerne hoch halten.