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Interview

Magersucht bei Männern: Arne Bredemeyer spricht über seine Esstörung

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Magersucht bei Männern: «Mein Zustand war ganz klar lebensbedrohlich»

Arne Bredemeyer litt jahrelang an einer Essstörung, zeitgleich war er sportsüchtig. Als Teenager trieb er seinen Körper ans Äusserste, bis ihm mit 19 Jahren ein Arzt klarmachte, dass er sterben werde, wenn er nicht radikal etwas an seinem Leben ändere.
28.12.2025, 19:4728.12.2025, 19:47
Lukas Armbrust / watson.de

Arne Bredemeyer war magersüchtig. Heute klärt der 25-Jährige über die Erkrankung auf, um das Tabu zu brechen und betroffenen Männern Mut zu machen. Im watson-Interview erklärt er, welche Ausmasse die Krankheit bei ihm annahm, warum Magersucht keine reine «Frauen-Krankheit» ist und was er Menschen rät, die Betroffenen helfen wollen.

Mittlerweile arbeitet Arne Bredemeyer als Assistent für einen Coach und will Männern helfen, die an Magersucht erkrankt sind.
Mittlerweile arbeitet Arne Bredemeyer als Assistent für einen Coach und will Männern helfen, die an Magersucht erkrankt sind.bild: arne@frankschoppe.de

Watson: Arne, mit 19 Jahren hast du bei einer Körpergrösse von 1,83 Meter nur noch 39 Kilogramm gewogen. Wie lebensbedrohlich war dein Zustand?
Arne: Ich bin nach sechs oder sieben Klinikaufenthalten bei einem Arzt gelandet, der ganz offen zu mir sagte: «Herr Bredemeyer, Sie können sich jetzt entscheiden: Entweder machen Sie noch ein, zwei Tage so weiter und Ihr Körper gibt auf. Oder Sie entscheiden sich fürs Leben.» Mein Zustand war also ganz klar lebensbedrohlich.

So eine Essstörung entwickelt sich nicht von heute auf morgen. Wann hat das angefangen?
Ich hatte schon als Elfjähriger das Gefühl, dass irgendwas in meinem Leben nicht stimmt. Teilweise habe ich mich mit anderen verglichen und es hat sich so angefühlt, als wäre ich nicht genug. Um diese Gefühle zu unterdrücken, habe ich in der Pubertät angefangen, Sport zu machen. Dadurch wollte ich Anerkennung bekommen, kurzfristig hat das auch funktioniert. Ich war sehr gut im Ausdauersport. Aber ich wollte immer mehr und so fing der Teufelskreis an.

«Kurzfristig hatte ich das Gefühl, alles im Griff zu haben, aber in Wahrheit war ich komplett ausser Kontrolle.»

Wie hat sich die Essstörung bei dir geäussert?
Ich habe ständig Kalorien gezählt, sehr bewusst und vermeintlich gesund gegessen – wenig Kohlenhydrate und Fett, dafür viel Eiweiss. Am Ende waren es nur noch Magerquark, Salat und Gemüse. Beim Mittagessen habe ich oft behauptet, ich hätte schon gegessen – oder ich habe danach stundenlang Sport gemacht, um zu kompensieren.

Hattest du noch ein Hungergefühl?
Ja, der Körper schreit oft nach Nahrung. Gerade, wenn man zusätzlich so viel Sport macht, braucht man ja auch Energie in Form von Essen. Bei mir ging es aber viel um Kontrolle über meinen Körper und mein Leben. Essen war ein Mittel dafür. Kurzfristig hatte ich dann auch das Gefühl, alles im Griff zu haben, aber in Wahrheit war ich komplett ausser Kontrolle.

Zusätzlich zur Essstörung hattest du eine Sportsucht. Welchem Ideal bist du nachgeeifert?
Ich bin niemandem nachgeeifert. Also ich habe mir nie einen bestimmten Fitness-Influencer als Vorbild genommen. Mir ging es vor allem um Anerkennung und dieses Gefühl nach dem Sport, dieses Endorphin-High. Das hat mein Leben damals lebenswert gemacht. Ohne Sport habe ich mich einfach nur schlecht gefühlt.

Wie stark hat die Sportsucht dein Leben beeinflusst? Das war ein riesiger Struggle. Ich hatte ständig diesen inneren Drang, Sport zu machen – gleichzeitig wollte ich meine Familie nicht beunruhigen. Deswegen habe ich angefangen, alles heimlich zu machen. Also habe ich mir nachts um drei den Wecker gestellt, um ein Workout zu machen, und tagsüber habe ich immer wieder die Schule geschwänzt. Und als ich später eine Ausbildung begonnen habe, bin ich nach ein paar Wochen krankgeschrieben worden. So konnte ich weiter trainieren.

In dieser Zeit hat sich dein Gesundheitszustand massiv verschlechtert.
Ja, für die Ausbildung bin ich von zu Hause ausgezogen – da war ich mit mir und der Krankheit komplett allein. Mein ganzer Alltag drehte sich nur noch um Essen und Bewegung. Je weniger ich gegessen habe, desto mehr habe ich abgenommen – und mit dem Gewicht sank auch die Energie.

Eigentlich wolltest du muskulöser werden, doch du bist immer dünner geworden. Wie hast du dir diesen Widerspruch erklärt?
Ich stand teilweise vor dem Spiegel und dachte: Du hast ja ein Sixpack – also ist alles okay. Aber jeder hat einen Sixpack, wenn er kaum noch Körperfett hat. Irgendwann hatte ich keine Kraft mehr fürs Fitnessstudio und konnte nicht mal mehr joggen. Ich war nur noch in der Lage, spazieren zu gehen.

Welche Ausmasse hat das angenommen?
Ich hatte einen Tracker. Anfangs waren es 30'000 Schritte, dann 40'000 und irgendwann standen 100'000 Schritte pro Tag auf dem Display. Selbst als ich einen Ermüdungsbruch im Fuss hatte, bin ich weitergelaufen. Das war nur noch Qual, nichts anderes. Dieses Gefühl wünsche ich wirklich niemandem.

Du hast dich aber nicht nur körperlich verändert. Wie sehr hat dich die Erkrankung auch als Mensch verändert?
Ich habe mich sozial total isoliert. Ich konnte mich nicht mehr mit Freunden treffen, weil das häufig mit Essen verbunden war. Zu Hause gab es viele Konflikte, vor allem mit meiner Mutter. Sie wollte mir helfen, aber ich habe sie immer wieder weggestossen, sogar beleidigt. Dass wir heute wieder ein gutes Verhältnis haben, ist keine Selbstverständlichkeit. Dafür bin ich sehr dankbar. Damals hat einfach mehr die Krankheit gesprochen als ich selbst.

Über Magersucht wird oft als «Frauen-Krankheit» gesprochen. Hat es das schwerer gemacht, dir deine Erkrankung einzugestehen?
Definitiv. Ich war in den Kliniken immer der einzige Mann. Und wenn dann in der Gruppentherapie über «Germany’s Next Topmodel» geredet wurde, konnte ich damit nie etwas anfangen. Ich dachte: «Was soll ich hier? Das betrifft mich gar nicht». Ich denke, es wäre einfacher gewesen, wenn da allgemein über das Körperbild gesprochen worden wäre und Faktoren, die uns alle beeinflussen.

Wie Fitness-Influencer, die auf Social Media unrealistische Transformationen in kürzester Zeit versprechen?
Ja, das finde ich gefährlich. Ich glaube, Menschen, die so sportlich und muskulös sind, streben selbst nach irgendwas und suchen zum Beispiel die Anerkennung von aussen. Ich bezweifle, dass sich manche Fitness-Influencer so präsentieren würden, wenn sie 100-Prozent fein mit sich wären. Am Ende entsteht der Selbstwert nicht durch Leistung, sondern Verständnis. Wenn man sich selbst versteht und akzeptiert, kann man sich ein gutes Fundament aufbauen.

Diese Erkenntnis hat sich bei dir erst nach der harten Ansage vom Arzt eingestellt.
Ja, das war der erste Moment, in dem ich bereit war, wirklich Hilfe anzunehmen. Ich habe meinen Vater gebeten, mich in eine Psychiatrie zu bringen. Vorher war ich zwar schon in Kliniken, aber nie für mich – sondern für die anderen, damit meine Familie beruhigt ist. Ich habe den Vorzeigepatienten gespielt. Doch dann war ich zum ersten Mal ehrlich zu mir selbst. Es war ein Prozess – Schritt für Schritt. Ich habe in einer Wohngruppe für Menschen mit Essstörungen gelebt, und das hat mir extrem geholfen. Ich habe gemerkt: Ich bin mehr als die Essstörung. Ich werde akzeptiert, wie ich bin. Und genau das ist der entscheidende Punkt: sich selbst akzeptieren, wie man ist.

Was rätst du Menschen, die einer Person mit Essstörung helfen wollen?
Fragen stellen – ohne Vorwürfe. Nicht: «Warum isst du nichts?», sondern: «Mir ist aufgefallen, dass du kaum isst – ich mache mir Sorgen.» Das kann die Hemmschwelle senken. Wenn man wirklich sieht, dass jemand leidet, sollte man Unterstützung anbieten – nicht sagen: «Du musst zur Therapie», sondern fragen: «Wollen wir gemeinsam schauen, wie man dem auf den Grund gehen kann?» Ich glaube, Magersucht ist auch ein Suchen nach etwas, das man vielleicht nie gespürt oder verloren hat. Und ich denke, am Ende suchen wir doch alle dasselbe: Liebe und Akzeptanz von den Menschen, die uns am nächsten stehen.

Betroffene, die Hilfe suchen, können sich bei folgenden Anlaufstellen melden:

Auch bei Arne Bredemeyer selbst können sich Menschen mit Essstörung melden (Kontakt: arne@frankschoppe.de).

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Die beliebtesten Kommentare
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Thunersee
28.12.2025 21:23registriert März 2024
Magersucht ist wirklich eine grosser Mist. Hatte zwei Personen, welche daran erkrankt sind. Eine davon ist nicht mehr da. Es hat mir die Augen geöffnet. Für mich ist das Aussehen eines Menschen nicht dass wichtigste, sondern, das innere eines Menschen zählt für mich.
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