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Warum gerade alle krank sind – Infektiologe Jan Fehr ordnet ein

Kinder sind von der gegenwärtigen Grippewelle besonders betroffen.
Kinder sind von der gegenwärtigen Grippewelle besonders betroffen.Bild: sda
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Warum gerade alle krank sind – Infektiologe ordnet ein

Der Infektiologe Jan Fehr sagt im Interview, warum gerade alle kränkeln und Masken weiterhin eine gute Idee sind – wenn auch nicht immer und überall.
15.12.2022, 19:2017.12.2022, 18:53
Elena Lynch
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Gefühlt sind gerade alle krank. Stimmt das? Und sind es mehr Erkrankungen als vor der Pandemie?
Jan Fehr:
Ja, der Eindruck stimmt. Das zeigen auch nationale und internationale Zahlen. Gestern habe ich gerade die neuesten Daten für Nordamerika und Europa gesehen. Darauf ist sehr eindrücklich zu erkennen, wie viel mehr Menschen krank sind, verglichen mit dem Winter vor der Pandemie.

Und warum ist das so?
Wie immer sind es wahrscheinlich mehrere Faktoren. Entscheidend ist, dass wir uns während der Pandemie korrekterweise mit Abstand, Hygiene und Maske geschützt haben. Dadurch sind auch andere Atemwegsviren – nicht nur Covid-19 – aufgehalten worden. So gut wie niemand hat sich zu der Zeit die Grippe geholt.

Jetzt werden diese Verhaltensregeln aber wieder vernachlässigt.
Richtig. Wir neigen wieder dazu, trotz Schnupfen in die Bar oder ins Büro zu gehen. Und wenn man sich im ÖV umsieht, tragen dort die wenigsten Menschen eine Maske – obwohl sie Schulter an Schulter stehen und husten oder niesen. Wir schützen uns weniger.

Sind wir auch anfälliger?
Während der Pandemie ist unser Immunsystem – ausser mit Covid-19 – nur beschränkt mit Atemwegsviren in Kontakt gekommen. Das heisst, das immunologische Gedächtnis konnte nicht aktualisiert werden. Im Grunde ist es wie mit einem Update bei einem Computer.

Kann man schon von einer Grippewelle sprechen?
So wie sich die Zahlen aktuell präsentieren, könnte es der Beginn einer Grippewelle sein. Und falls dem so ist, wäre das deutlich früher als vor der Pandemie.

Die Grippeinfektionen steigen dieses Jahr früher und steiler an als vor der Pandemie.
Die Grippeinfektionen steigen dieses Jahr früher und steiler an als vor der Pandemie.Bild: BAG

Was ist besser: eine Maske zu tragen oder sich den Viren auszusetzen und sich so abzuhärten?
Dieses «Aussetzen» und «Abhärten» ist keine gute Idee. Es ist unter Umständen ein Spiel mit dem Feuer und funktioniert auch nur bedingt so, wie wir uns das ausmalen. Die meisten Jungen kommen gut durch, wenn sie krank werden. Aber es gibt immer Menschen, die sich nicht schützen können oder nicht gut geschützt sind, weil sie älter oder krank sind und ein geschwächtes Immunsystem haben. Auf die sollte man Rücksicht nehmen – immer. Und man darf nicht vergessen: Es kann auch einen selbst schwer erwischen. Es landen immer wieder junge Menschen auf der Intensivstation. Es sind zwar seltene Einzelfälle, aber als Individuum weiss man trotzdem nicht, ob und wie es einen trifft.

Also unabhängig davon, ob Covid-19 oder nicht, eine Maske ist grundsätzlich eine gute Idee?
Eine Maske im Winter macht Sinn, wenn viele Menschen auf engem Raum zusammen sind. Eine generelle Maskenpflicht – immer und überall – befürworte ich aber nicht. Wir müssen zu einer Normalisierung des gesellschaftlichen Lebens zurückfinden. Das ist wichtig für unsere Psyche. Ich bin Infektiologe, aber der Lehrstuhl, den ich an der Universität Zürich leite, ist auch für öffentliche Gesundheit zuständig – und da gehört auch die mentale Gesundheit dazu.

Sie haben von «Update» gesprochen. Muss man denn regelmässig krank sein, um besonders gesund zu sein?
Der Zustand von Gesund- und Kranksein ist nicht immer scharf voneinander zu trennen. Es gibt nicht nur krank oder nicht krank. Man kann sich auch anstecken, aber gar nicht oder nur leicht krank werden. Das ist der Idealfall: Das Immunsystem ist dermassen auf dem neusten Stand, dass es sofort weiss, mit welchen Erregern es zu tun hat und wie es den Eindringling effizient bekämpfen kann.

Ist das Immunsystem während der Pandemie aus der Übung gekommen?
Nein. Das Immunsystem bekämpft unzählige Erreger jeden Tag. Es gibt jedoch gewisse Erreger, gerade respiratorische, die in den letzten Jahren nur noch selten vorkamen, sodass unser Immunsystem nicht mehr ganz so zielgerichtet auf diese vorbereitet ist. Es ist also nicht ausser Übung, sondern kann einfach auf genannte Erreger weniger rasch reagieren.

Welche Viren zirkulieren derzeit?
Die Daten des BAG erfassen grippeähnliche Erkrankungen – ein Sammeltopf, zu dem auch Covid-19 gehört. Schaut man die stark steigende Kurve an, kann man also nicht aufdröseln, was jetzt was ist – ganz zu schweigen von der Dunkelziffer. Aber aus weitergehenden Daten wird klar, dass Grippeviren gerade stark zirkulieren. Auch das RS-Virus ist sehr prominent vertreten – und brachte die Kinderspitäler in den vergangenen Wochen an den Anschlag.

Und das Rhinovirus, also Schnupfen, ist auch dabei?
Ja, aber nicht ganz so prominent. Zumindest in den Situationen, in welchen Tests gemacht wurden. Auch hier dürfte die Dunkelziffer hoch sein. Interessant beim Bericht des BAG ist, welche Alterskategorie besonders betroffen ist.

Welche?
Die 15- bis 29-Jährigen. Sie sind am meisten unterwegs: im Ausgang, in der Schule, in den Vereinen, im ÖV. Das zeigt, welchen Einfluss die Mobilität, die ja schön und gut ist, auf die Ausbreitung von Viren hat. Ein Faktor, welcher auch während der Pandemie entscheidend war.

Das RS-Virus ist besonders für Kinder kritisch. Viele mussten mit Bronchitis ins Spital. Holen die Kinder jetzt alle Ansteckungen nach, von denen sie während der Pandemie verschont blieben?
Die Kleinkinder, die 2020 oder 2021 geboren sind, sind infektiologisch gesprochen noch «naiv». Sie kommen erst jetzt so richtig mit diesen Atemwegsviren in Kontakt. Es ist, als würden sie laufen lernen: Sie können nicht direkt zum Sprint antreten, sondern müssen aufstehen, gehen, hinfallen. So ist es auch mit ihrem Immunsystem, das lernen muss, mit diesen Viren umzugehen und einen Schutz gegen sie aufzubauen.

Die Daten des BAG zeigen auch: Die grippeähnlichen Erkrankungen nehmen früher zu als in anderen Jahren. Wie wird sich die Kurve entwickeln?
Das kann man nicht voraussagen. Meistens tritt aber irgendwann eine Normalisierung ein. Davon darf man auch dieses Mal ausgehen. Das Einzige, was man zur Kurve sagen kann, ist, dass sie dieses Jahr früher hochgeht und steiler steigt als in den Jahren vor der Pandemie. Entscheidend ist, wie die kommenden Winterwochen aussehen werden. Wir müssen uns auf alle Szenarien vorbereiten, auch auf einen weiteren Anstieg der grippeähnlichen Erkrankungen. Umso wichtiger wäre es, dass die Covid-19-Tests auch im neuen Jahr von den Behörden weiter bezahlt würden. Damit wir wenigstens für Corona nicht ganz im Dunkeln tappen werden.

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146 Kommentare
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HPOfficejet3650
15.12.2022 19:59registriert November 2015
habe mir das erste mal die Grippenimpfung gegönnt. Resultat: Von 5 Mitarbeiter bin ich der einzige der nach dem Weihnachtsessen noch am arbeiten ist😐Alle anderen 38-40°C Fieber😅 weiss nicht, ob ich der Gewinner oder der Verlierer bin🙄
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kusel
15.12.2022 20:54registriert Januar 2015
Was heisst hier alle? Ich bin gesund. Grippeimpfung inklusive. Vorsorge lohnt sich.
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Butschina
15.12.2022 23:42registriert August 2015
Mit all meinen Vorerkrankungen und Einschränkungen wäre ich eigentlich prädestiniert für regelmässige grippale Infekte und ähnliches. Vor der Grippe schütze ich mich mit der Impfung. Denn zwei Tage Fieber würden reichen, damit ich im Spital lande. Nicht zwingend weil die Infektion extrem wäre, sondern weil ich durch meine Einschränkungen rasch überfordert wäre zuhause.
Ich bin mega dankbar, habe ich ein gutes Immunsystem. Rund um mich sind viele krank. Ich war jedoch seit 2009 nie mehr mit einem Virus im Bett. Ich bin oft und bei jedem Wetter draussen. Das ist sicher förderlich.
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