«Im Internet spüre ich nicht nur Unverständnis, ich spüre Hass»
Sie haben sich viel Zeit gelassen für Ihr erstes Album nach Ihrem ESC-Sieg.
Nemo: Das sagen alle. Aber ich finde das gar nicht. Nach dem ESC-Sieg habe ich für «The Code» lange Promo gemacht und ging danach auf Festival- und Herbst-Tour. Mit der Produktion für das Album konnte ich erst Anfang Jahr so richtig beginnen.
Sie haben sogar Ihre Frühlingstour verschoben.
Es ist so viel auf uns zugekommen, womit wir niemals gerechnet hatten. In diesem Wirbelsturm der Ereignisse musste ich eine schwierige Entscheidung treffen.
Hatten Sie nicht das Gefühl, dass Sie das Momentum des ESC-Sieges verpasst haben?
Schlussendlich ist es eine Frage von Qualität versus Quantität.
Wahrscheinlich hätte ich schon zwei Monate nach dem ESC irgendein schnelles Album veröffentlichen können. Mit Songs von anderen Songwritern. Aber es hätte qualitativ nicht meinen Ansprüchen genügt. Ich habe diesen Prozess der Kreation gesucht, um an meine Grenzen zu stossen.
Wofür steht der Albumtitel «Arthouse»?
Der Begriff kommt aus der Filmwelt und meint Filme, die eine Alternative zum Mainstream der Kinowelt bieten. In der Popmusik gibt es den Begriff nicht. Aber ich finde, er passt zu meiner Musik, die zwar poppig ist, sich aber auch vom Mainstream etwas abgrenzt.
Was ist Ihre Vision von Popmusik im Jahr 2025?
In der Musik, in der Kunst allgemein, stehen wir an einer Wegscheide. Vor dem Hintergrund von KI ist es sehr schwer, vorauszusehen, wie sich die Popmusik weiter entwickeln wird. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass die Musik und alles rundherum innovativ sein muss, wenn sie eine Existenzberechtigung haben will.
Was heisst das für «Arthouse»?
Es ist für mich ein erster Versuch, meine künstlerischen Grenzen auszuloten. In jedem Song versuche ich, eine Türe aufzumachen, die ich noch nie zuvor geöffnet habe. Insofern sehe ich das Album als Exploration, als musikalische Erkundung.
So kann man KI für Künstlerinnen und Künstler auch als Chance sehen?
Ich fände es schön, diese Frage selbstbewusst mit Ja beantworten zu können. Aber es ist schwer abzuschätzen, wie sich die künstliche Intelligenz selbst weiterentwickelt. Wir stehen erst am Anfang dieser Welt.
Wäre eine solche Produktion in der Schweiz nicht möglich gewesen?
Wahrscheinlich schon. Aber der Wechsel von Mundart zu Englisch ist nicht einfach. Als ich weit vor dem ESC damit begann, wollte niemand etwas davon wissen. Ich musste den Bruch suchen. Zuerst in Berlin, dann in London, wo mich ein Label unter Vertrag nahm. Ich war fasziniert von den Möglichkeiten, die sich mir dort boten. Es war nicht eine Entscheidung gegen die Schweiz, sondern für London.
Jetzt leben Sie in Paris. Wie kam das?
Das hat mit Sacha Rudy zu tun, der in Paris lebt. Mit ihm und dem amerikanisch-schweizerischen Musiker Liam Maye habe ich das Album fertig produziert. Weil es mir in Paris so gut gefiel, bin ich geblieben. Aber Paris ist nicht mein fester Wohnsitz. Ich bin halt etwas nomadisch veranlagt. Vielleicht bin ich im nächsten Jahr wieder in London.
Der Schritt vom alten zum neuen Nemo-Sound ist gross. Rap ist fast ganz verschwunden. Weshalb?
Rap prägt meine Musik immer noch, auch im Gesang, ich singe sehr rhythmisch. Ich verspüre aber kein Bedürfnis mehr, reinen Rap zu machen. Vielmehr reizt es mich, Rap auf neue, vielschichtigere Weise in meine Musik einfliessen zu lassen.
Der Song «Unexplainable» ist für mich musikalisch ein Höhepunkt. Gleichzeitig unglaublich schwierig zu singen. Am ESC in Basel, wo Sie den Song vorstellten, haben Sie nicht rein intoniert.
(lacht) Ich weiss, was Sie meinen. Aber es ging mir nicht darum, wie ich singe. Es war mir egal, ob ich die Töne treffe. Wichtig war, den Emotionen freien Lauf zu lassen, alles loszulassen. Für mich war es ein wichtiger Moment – ich würde es wieder so machen.
«The Code» thematisiert Sie als non-binäre Person. Sie haben sich seit dem ESC stark für die Akzeptanz von non-binären Personen eingesetzt. Hat sich der Einsatz gelohnt?
Ich kann das nur aus meiner Sicht beurteilen. In meinem Umfeld und in Gesprächen habe ich gemerkt, dass das Bewusstsein für das Thema deutlich zugenommen hat – wohl auch im Zuge der Debatten beim ESC. Zuvor herrschten oft Missverständnisse, etwa die Annahme, non-binär habe mit Sexualität zu tun.
Aber Sie begegnen sicher noch viel Unverständnis?
Im persönlichen Gespräch negiert es so gut wie niemand. Aber: In der Parallelwelt des Internets fallen alle Hemmungen. Dort spüre ich nicht nur Unverständnis, ich spüre Hass. Und zwar noch mehr als vor einem Jahr.
Worauf führen Sie das zurück?
Ich denke zum Beispiel an die Wahl von Trump und ähnlich positionierten Akteuren. Dies hat bei vielen das Gefühl einer gesellschaftlichen Legitimierung ihrer Einstellungen ausgelöst. Wir leben in einer Zeit, in der Hass wieder ungeniert ausgesprochen wird.
Sind Sie nach dem ESC gegenüber Journalistinnen und Journalisten misstrauischer geworden?
Ehrlich gesagt, ja! Auslöser war das Interview mit dem «Bieler Tagblatt». Ich habe erfahren, was passiert, wenn gewisse Medien ohne Faktencheck einander abschreiben. Es kann schnell aus dem Kontext gerissen und ein Mechanismus in Gang gesetzt werden. Seither habe ich grösseren Respekt vor Interviews und manchmal auch Angst, dass ich falsch verstanden werde.
Sie starten Ihre Tour diese Woche in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Was ist Ihre Botschaft?
Ich kenne viele ukrainische Artists und fühle eine tiefe Verbundenheit mit der dortigen Kreativszene. Dazu habe ich dort viele Fans. Als ich im letzten Jahr von einer Veranstaltungsfirma in Kiew angefragt wurde, fühlte ich mich geehrt. Meine Botschaft lautet: Wir haben euch nicht vergessen. Wir geben ein Zeichen der Solidarität.
Haben Sie keine Angst?
Ich vertraue den Leuten vor Ort, die Erfahrung haben mit Konzerten in Kiew zum jetzigen Zeitpunkt.
Sie haben sich gegen eine Teilnahme von Israel am ESC ausgesprochen. Würden Sie die Forderung zurücknehmen, wenn Israel die Angriffe in Gaza stoppt?
Eine temporäre Waffenruhe allein genügt nicht. Die weiteren Schritte müssten gewährleisten, dass die Zivilbevölkerung in Palästina langfristig geschützt wird. Die Idee eines Boykotts ist ja, Druck auf Israel auszuüben, dass der Feldzug in Gaza gestoppt wird. In diesem Zusammenhang ist auch wichtig: Ein UN-Untersuchungsgremium hat festgestellt, dass Israel im Gazastreifen Genozid begangen hat. Das zeigt, dass es hier nicht nur um eine vorübergehende Waffenruhe geht, sondern um schwerste Menschenrechtsverletzungen, die aufgearbeitet werden müssen. Insofern begrüsse ich den Entscheid von jenen Ländern, die sich dem Boykott anschliessen.
Verstehen Sie, wenn man Ihnen vorwirft, dass Sie auf einem Auge blind sind?
Nein. Ich verurteile jede Art von Gewalt, selbstverständlich auch jene, die von der Hamas ausgeht und habe das mehrfach in Statements betont. Im Moment geht es jedoch vor allem darum, die katastrophale Situation in Gaza sofort zu unterbrechen, um Kinder und Menschenleben zu retten. Da ist jede Form von Druck willkommen. Dass die Schweiz nicht mehr macht, um das zu verhindern, macht mich traurig.