Zu Beginn der 90er-Jahre wurde Sarah Wiener zweimal hintereinander Berliner Stadtmeisterin in Vollkontakt-Taekwondo. Dies ist zwar eine kuriose, aber keineswegs erstaunliche Randnotiz ihrer Biografie. Die Deutsch-Österreicherin mit Jahrgang 1962 brach mit 17 die Schule ab, trampte durch die Welt und liess sich schliesslich als junge alleinerziehende Mutter und Sozialhilfeempfängerin in Berlin nieder. Und kämpfte sich hoch und höher. Wurde von der Kellnerin zur Catering-Unternehmerin, zur beliebten TV-Köchin, zur Restaurant-Betreiberin und schliesslich zur Europa-Parlamentarierin. Seit 2019 ist sie Abgeordnete der österreichischen Grünen. Wir erreichen sie in einem Hotelzimmer in Brüssel.
Lassen Sie mich bitte mit der Tür ins Haus fallen: Wie bringen Sie Französinnen und Franzosen bei, dass sie keine Foies gras mehr essen sollen? Das ist doch ein kulinarisches Erbe, das aus der französischen Küche nicht wegzudenken ist.
Sarah Wiener: Als Köchin weiss ich natürlich, wie gut Foie gras schmeckt.
Unfassbar gut.
Ja. Aber man muss natürlich auch sagen, dass Foie gras eine Fettleber ist und damit ein Krankheitsbild, das man Tieren zufügt. Ich weiss nicht – und da müssten wir jetzt auch philosophische und ethische Diskussionen führen – ob es zulässig ist, für einen Gaumenkitzel Tiere zu quälen. Ich finde, dass wir das nicht dürfen. Früher hat man gedacht, Babys und Tiere haben kein Schmerzempfinden, heute wissen wir mehr darüber.
Haben Sie Foie gras aus Ihrer Küche verbannt?
Schon lang. Seit Jahrzehnten. Es gibt bestimmte Dinge, die biete ich nicht an und habe ich noch nie angeboten. Das Perverse ist doch, dass viele Menschen Foie gras geniessen, aber nicht bereit sind, normale, gesunde Leber zu essen. Die wird zerschreddert.
Echt? Also ich esse gerne ganz normale Kalbsleber.
Dann sind Sie eine rühmliche Ausnahme! Es werden kaum mehr Innereien gegessen.
In dieser ganzen neuen Nose-to-Tail-Fleischverzehr-Kultur, wo man versucht, möglichst das ganze Tier zu verwerten, wird doch gerade darauf Wert gelegt. Ändert sich da nicht etwas?
Essverhalten ändert sich sehr langsam und ist sehr atavistisch. Leider ist es so, dass heute viele Innereien durch die Massentierhaltung, durch Medikamente so sehr mit Gift angereichert und durch Tumore oder Verätzungen derart geschädigt sind, dass wir die gar nicht mehr essen können, selbst wenn wir wollten. Der Innereienverzehr hat aber nicht nur darunter, sondern auch unter falschem Marketing sehr gelitten in den letzten Jahrzehnten. Wir sind darauf geeicht worden, dass Edelteile besser schmecken, sie wurden zum Statussymbol. Die wirklich energiereichen, schmackhaften Fleischteile, die auch immer billig waren, die gibt es eigentlich kaum mehr. Das ist eine Parallelität von Massentierhaltung, Statusglauben und einer Nivellierung, einer Verschlammung unserer Geschmacksnerven. Wir wollen gar nichts mehr essen, was wirklich Geschmack hat.
Befinden wir uns in einem Geschmackskollaps?
Alles muss überzuckert sein, jeder Bitterstoff wird rausgezüchtet – die Industrie sucht immer den kleinsten gemeinsamen Nenner eines Geschmacks für viele, und da fallen alle interessanten Geschmackserlebnisse durch den Rost. Wir werden mit einer Dutzendware geeicht, verlernen, unseren Geschmack zu trainieren und ein Geschmacksgedächtnis anzulegen. Das ist ein Desaster. Deshalb hab ich 2007 auch eine Stiftung gegründet, die Kindern das Kochen beibringt.
Angesichts eines industriegesteuerten Massengeschmacks nützt es natürlich nichts, wenn in einer Stadt wie Zürich eine kleine Bubble fleissig ihre fünf Nose-to-Tail-Restaurants frequentiert, das ist schon klar.
Es ist schön, dass es diesen Trend gibt, und ich würde mir wünschen, dass er zum Haupttrend wird. Ich befürchte aber, dass es auch in der Ernährungspolitik und im Ernährungsverhalten eine Zersplitterung von bestimmten Strömungen und Trends gibt. Die einen, die Dinosaurier, zu denen ich mich zähle, verteidigen die regionale, ökologische, glückseligmachende Geschmacksvielfalt. Und dann gibt es sehr viele Gruppen von Menschen, die ein gewisses Ernährungsverhalten schon fast zu einer Ersatzreligion machen und es auch dazu nutzen, sich von anderen abzugrenzen. Und genau so, wie auch wir schon vor vierzig Jahren dem Markt und den Marketinginstrumenten verfallen sind, suchen sie jetzt ihr Heil und das Heil der Welt in einer künstlichen, minderwertigen Ernährungskultur der Ersatzprodukte, der Surrogate.
Sie sprechen jetzt zum Beispiel von künstlichem Fleisch, sogenanntem «Clean Meat», das im Labor hergestellt wird.
Leider muss man sagen, dass die vegane Bewegung in allerbester Absicht Tür und Tor für eine Künstlichkeit aufgestossen hat, die es so davor nie gab. Zusammen mit ein paar Aufrechten versuche ich verzweifelt, dieses Tor zuzuhalten oder zumindest den Durchgang zu verkleinern und die Leute aufzuklären, was es eigentlich bedeutet, wenn wir diese Art von Ernährung zum Mainstream erheben wollen. Und was es auch für unser Sein und unser Denken bedeutet.
Klären Sie uns auf!
Diese Art von Kunstprodukten braucht keine Natur mehr. Das ist ja toll! Dann haben wir auch keine Probleme mehr mit der Biodiversität, dem Klima, den Wetterextremen, weil wir unsere Nährstoffe in Industrien herstellen lassen. Wir haben Bioreaktoren, die sogenanntes In-Vitro-Fleisch oder Fake-Fleisch erzeugen, es gibt schon Fake-Eier, Fake-Milch, Fake-Huhn, Fake-Fisch. Und diese Maschinerie, die Milliarden an Forschung verschlingt, wird von der gleichen Industrie befördert, die die Massentierhaltung befördert hat. Wenn Sie schauen, wer da Hunderte von Millionen in vegane Strukturen versenkt, wer da die grossen Player sind, so finden Sie Tyson Food, die PHW-Gruppe, Cargill, klassische Fleischproduzenten. In meiner Welt sind das die Oberverbrecher, die uns mit Fehlernährung von unseren kulinarischen Wurzeln entfremdet haben, die für die Zunahme unzähliger Krankheiten verantwortlich sind. Das sag ich jetzt als Köchin, nicht als Politikerin, die natürlich politically correct reden sollte.
Wir essen uns also krank?
In den letzten dreissig, vierzig Jahren sind wir mit einer massiven Flut von chronisch entzündlichen Krankheiten, von Krebsarten, von Gicht, Asthma, Diabetes, Parkinson, Alzheimer, Allergien konfrontiert. Heute gibt’s Darmkrebs bei 25-Jährigen! In den 80ern gab es in Europa und den USA kaum einen einzigen Fall von Darmkrebs unter Menschen, die jünger als 50 waren!
Und jetzt versuchen also diese Firmen, die eine Entfremdung durch eine weitere Entfremdung wett zu machen?
Diese gleichen Konzerne sagen nun, hey, wir haben die Lösung, wie haben die Patente, wir haben das Monopol, wir sagen euch, wie ihr euch zu ernähren habt, und wir machen das so gut, weil wir genau wissen, welcher Fettschmelzpunkt ein appetitliches Krachen im Ohr erzeugt, und wie wir das mit einem aromatisierten Zucker oder Salz so zusammenbauen, damit du denkst: Oh, das schmeckt aber gut!
Manchmal tut es das ja tatsächlich. Unsere Geschmacksnerven werden erfolgreich überlistet.
So was wird jetzt ganz schwer propagiert und missbraucht unsere Mitwelt, indem es heisst, wir brauchen eine andere, künstlichere Ernährung. Und dabei geht es ja nicht darum, wieder zu einer Balance mit der Biodiversität und der Ökologie zu finden, sondern nochmals einen draufzusetzen, nochmals eine grössere Stufe des Grauens zu befördern. Das sind keine Lebensmittel mehr, das sind bloss noch Nährstoffe. Jetzt kann man natürlich sagen: Was ist dein Problem, mir schmeckt das, ist doch egal, wenn das minderwertige Ware ist!
Was also ist Ihr Problem?
Ein ganz Grundsätzliches: Wenn ich nicht mehr beurteilen kann, was gut für meinen eigenen Körper ist, weil meine Körperintelligenz manipuliert und betrogen wird, wenn ich die Transparenz und die Kontrolle darüber nicht habe, was ich wirklich essen kann, weil es einfach nicht mehr angeboten wird oder komplett undurchsichtig ist und mein Körper mit Stoffen konfrontiert wird, mit denen der Mensch im Laufe der Evolution nie in Berührung gekommen ist, frage ich mich: Was werde ich überhaupt in diesem Leben noch beurteilen können? Ich kann ja nicht mal mir selber vertrauen! Das ist ein hochpolitisches Thema. Wenn wir nivellierte, künstliche Nahrungsmittel zu uns nehmen und die Individualisierung der Lebensmittel und Ernährung abschaffen, steht am Ende auch die Individualisierung der Menschen auf dem Spiel.
Das klingt alles sehr beängstigend.
Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Kinder, die in der Grossstadt aufwachsen, in Hochhäusern, wo es keine Natur gibt, Natur nicht schützen, weil sie keine Sehnsucht danach haben. Wenn ich also keine Sehnsucht nach dem Richtigen und nach dem Schönen habe, werde ich sie auch nicht verteidigen und einfordern. Da wächst eine ganze Generation heran, die nichts mehr weiss über die Natur schlechthin, über die natürlichen Zusammenhänge, die Balance zwischen Tier, Pflanze und Mensch.
Trotzdem möchte ich an dieser Stelle zumindest Teile der jungen Generation in Schutz nehmen. Es zeigt sich da doch wieder ein erfreulicher Wille zum Protest und dazu, nicht alles zu akzeptieren. Geht Ihnen angesichts von Figuren wie Greta Thunberg nicht das Herz auf?
Doch, da geht mir das Herz auf! Ich kenne selber ein paar junge Menschen, die sich sehr ernsthaft engagieren, ich bewundere das sehr. Es ist erfrischend und beruhigend, dass es da eine Bewegung gibt, die nicht alles frisst, was man ihr vorsetzt. Und ich bedaure, dass unsere Jugend in eine Welt voller Krisen und Herausforderungen geboren wird und sozusagen auch in einem Klima der Angst gross wird, die so vielfältig ist im Vergleich zu meiner Jugend. Da gings eigentlich immer nur vorwärts und wir waren so begeistert, dass wir alles machen konnten – auch wenn wir es besser nicht gemacht hätten. Aber wir waren so begeistert, dass wir jeden Blödsinn gemacht haben, leider auch in der Agroindustrie.
So wie Sie das vorhin beschrieben haben, löst jetzt eine schon fast apokalyptisch scheinende Massenmenschenhaltung die Massentierhaltung ab. Was ist die Lösung?
Ich rede mit unzähligen Firmenchefs und CEOs, die anerkennen, dass die Welt nachhaltiger und giftfreier werden muss. viele Pläne, die sie haben, fussen dennoch auf der Frage: Wie kann ich damit viel Geld machen? Die Lösung wird wohl nicht darin liegen, dieses Wirtschaftssystem zu unterstützen, sondern andere Werte und andere Statussymbole zu finden, damit wir ein grösseres soziales Miteinander und eine befriedigendere Lebenssituation für alle schaffen und nicht zu Gewinnern und Verlierern von gutgemeinten Alphafirmen werden, die auf die eine oder andere Art noch mehr Konsum erzeugen und die die Welt oft nicht braucht.
Eine wissenschaftlich nicht ganz korrekte Bemerkung zum Themenkomplex Glyphosat wurde aus dem Interview gelöscht.
Ein Salat ist ein Salat.