Ausserhalb von Lausanne betreibt Nestlé ein grosses Forschungs- und Entwicklungszentrum mit rund 600 wissenschaftlichen Mitarbeitenden. Dort hat der Nahrungsmittelhersteller etwas eingerichtet, was in der IT längst üblich ist: einen Accelerator. Start-ups, Studierenden, aber auch Nestlé-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter werden eingeladen, in diesem «Beschleuniger» innerhalb von nur sechs Monaten ein neues Produkt zu entwickeln, und zwar so, dass es im Detailhandel verkauft werden kann.
Die jungen Unternehmen können dabei auf eine Infrastruktur vom Feinsten zurückgreifen. Eine Versuchsküche und eine flexible Mini-Produktionsanlage stehen ihnen zur Verfügung, ebenso der Rat von den rund 3000 Expertinnen und Experten, welche Nestlé weltweit beschäftigt.
Am 30. August hat Nestlé den Accelerator den Medien mit praktischen Beispielen vorgestellt: Ein Team von vier Studentinnen aus Berlin hat einen veganen Snack aufgrund eines alten Rezepts aus Indonesien entwickelt. Zwei junge Unternehmerinnen aus Kalifornien präsentieren ein Poulet-Bein samt gerösteter Haut, bei dem kein Huhn sterben musste. Ein in Zusammenarbeit mit der EPFL entwickelter Power-Drink schliesslich soll die Leistungsfähigkeit von Muskeln verbessern.
Für Nestlé ist dieser Accelerator eine Art Mini-Revolution. Dass junge Unternehmende und Studierende das Knowhow der Expertinnen und Experten teilen können, ohne Auflagen ihr Ding machen können – und dass der Nahrungsmittelkonzern diese Dinge öffentlich macht, das «wäre noch vor fünf Jahren undenkbar gewesen», sagt Geschäftsleitungsmitglied und CTO Stefan Palzer.
Doch verzweifelte Zeiten verlangen nach verzweifelten Massnahmen. Und die Zeiten haben sich dramatisch geändert. «Klimakrise und Covid zwingen uns, unsere Ernährung zu überdenken», erklärte denn auch Christina Senn-Jacobsen in ihrem Einführungsreferat.
Sie ist Managing Director des Swiss Food & Nutrition Valley, einer Vereinigung zur Förderung von nachhaltiger Ernährung. Nebst Nestlé gehören ihr auch Bühler und andere Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie an, aber auch die ETH und die EPFL.
Was heute in der Nahrungsmittelindustrie und der industriellen Landwirtschaft abgeht, erinnert an die Art und Weise, wie das Elektromobil derzeit die Autoindustrie aufmischt. Und das sind die Gründe:
Der Historiker Yuval Noah Harari schreibt in einem Vorwort zu «Clean Meat», Paul Shapiros Buch über künstliches Fleisch: «Gemessen an dem Leid, das sie verursacht, ist die industrielle Landwirtschaft wohl eines der schlimmsten Verbrechen in der Geschichte.»
Der Biologe Richard Dawkins vergleicht die Massentierhaltung mit der Sklaverei, der Philosoph Peter Singer gar mit Konzentrationslagern. Mark Bittman, ein amerikanischer Starkoch und Kolumnist, stellt in seinem Buch «Animal, Vegetable, Junk» glasklar fest:
Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben Traktor, Düngemittel und Pestizide die Landwirtschaft industrialisiert. Die Idylle vom Bauer, der im Einklang mit der Natur lebt, ist zum grössten Teil zur Farce geworden. Stattdessen hat sich – vor allem in den USA – ein monopolartiges Agro-Monster entwickelt, bei dem die Landwirtinnen und Landwirte schlechte Karten haben.
Sie sind abhängig von Banken und Agrokonzernen, die mit staatlichen Subventionen und Monopolrenten Milliarden verdienen. Für die in der Landwirtschaft tätigen Menschen fallen dabei nur Brosamen ab. Acht von zehn der am schlechtesten bezahlten Jobs in den USA betreffen die Landwirtschaft.
Die hochgezüchtete Landwirtschaft produziert Nahrung, die dem Menschen nicht bekommt. Diabetes, Herz-Kreislaufkrankheiten und Krebs sind die Folgen. «Ultraverarbeitetes Food ist mehr Gift als Nahrung», stellt Bittman fest. «Es macht uns genauso krank wie Vitaminmangel.»
Damit die Tiere ihre Qualen überhaupt bis zur Schlachtung aushalten, müssen ihnen massenhaft Antibiotika verfüttert werden. In den USA werden bereits gegen 80 Prozent aller Antibiotika für diesen Zweck verwendet. Das schlägt jedoch auf die Menschen zurück. Weil wir sie mit dem Fleisch mitessen, werden wir zunehmend resistent gegen ihre Wirkung. Deshalb besteht die Gefahr, dass wir bald über keine wirksamen Antibiotika mehr verfügen.
«Ihr mögt vielleicht nichts mehr vom Klimawandel hören, aber wenn der Planet für die Landwirtschaft vor die Hunde geht, wird es auch zu spät sein, den Cheeseburger-Konsum einzuschränken – wir werden dafür schlicht nicht mehr lange genug leben», warnt Bittman. «Und wie mit Covid-19 gibt es auch mit dem Klima keinen Waffenstillstand. Entweder kämpft man dagegen an oder man tut es nicht. Wir tun es nicht.»
Dass die industrielle Fleischproduktion einer der schlimmsten Verursacher der Klimagase ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Es bleibt noch ein Missverständnis: Die Kühe furzen nicht Methan, sie rülpsen es. Was jedoch bleibt, ist der ungeheure Schaden, den sie dabei anrichten. «Tyson Foods, der zweitgrösste Fleischverarbeiter der Welt, produziert doppelt so viele Klimagase wie Irland», schreibt Bittman.
Das müsste nicht sein. Kühe, die auf der Wiese grasen, rülpsen nicht nur weniger. Indem sie mit ihrem Gewicht das CO2 in der Erde halten, sind sie gar nützlich. In schrecklichen Feed-Lots gehaltene Rinder fressen jedoch heute den grössten Teil der Mais- und Sojaproduktion. Weil immer mehr Menschen immer mehr Fleisch essen wollen, wird der Regenwald abgeholzt. Damit wird auch unsere wichtigste Waffe im Kampf gegen die Klimaerwärmung geschwächt.
Dazu kommt, dass die Fleischproduktion Unmengen von Wasser verschlingt. Das gilt nicht nur für Rinder. Für die Aufzucht eines Poulets, das man im Supermarkt kauft, wurde mehr Wasser benötigt als ein in Mensch in einem halben Jahr mit Duschen verbraucht.
Dass sich der mächtige Agro- und Nahrungsmittelkomplex ändern muss, ist mittlerweile weitgehend unbestritten. Beim Wie jedoch scheiden sich die Geister. Nestlé setzt auf das Einbinden der jungen Start-ups und auf ein neues Verhältnis zu den Bauern und Bäuerinnen. «Eine enge Zusammenarbeit mit der lokalen Landwirtschaft wird für uns immer wichtiger», sagt Forschungschef Palzer.
Für Kritiker wie Bittman geht dies zu wenig weit. Sie streben eine Zerschlagung des übermächtigen Agrobusiness und eine Wiedergeburt des traditionellen Kleinbauern. Dem weit verbreiteten Vorurteil, diese Agroecology sei nicht in der Lage, die Menschheit zu ernähren, widerspricht Bittman vehement: «Obwohl von staatlichen Forschungsfonds ignoriert, von der Finanzindustrie bekämpft und von den Regierungen entmutigt, sind Kleinbauern letztlich viel effizienter als die industrielle Landwirtschaft», so Bittman.
Ebenfalls umstritten ist die Frage, wie das grösste Problem, die Fleischfrage, gelöst werden kann. Vegane Produkte, wie sie mittlerweile auch von Nestlé hergestellt und von den Grossverteilern vertrieben werden, bilden ein interessantes neues Geschäftsfeld. Sie schmecken auch gut, wie die am Nestlé-Anlass gereichten Häppchen gezeigt haben. Sie werden jedoch den traditionellen Fleischkonsum nie ersetzen. Der Hunger nach richtigem Fleisch ist unstillbar.
Angesichts der Bevölkerungsentwicklung und dem Entstehen einer neuen Mittelschicht, etwa in China, wird der Fleischkonsum gar noch zunehmen. Wie also weiter? «Es gibt grundsätzlich drei Dinge, die passieren können», sagt Google-Gründer und Vegetarier Sergey Brin. «Die eine besteht darin, dass wir alle Vegetarier werden. Ich glaube nicht, dass das geschehen wird. Die zweite Möglichkeit ist, dass wir den Kopf in den Sand stecken und die Entwicklung und die damit verbundenen Umweltschäden ignorieren. Die dritte Möglichkeit lautet: Wir unternehmen etwas.»
Etwas unternehmen heisst im Fall von Brin, Geld für die Entwicklung von sogenanntem «clean meat» zur Verfügung zu stellen. Clean Meat ist Fleisch, das im Labor aus Zellen gezüchtet wird. Technisch ist dieses Verfahren bereits möglich. Schon 2013 konnte der holländische Professor Mark Post seinen ersten im Labor gefertigten Burger an einer Pressekonferenz in London präsentieren.
Nicht der Geschmack war dabei das Problem, sondern die Kosten. Die Herstellung dieses Burgers hatte 300’000 Dollar verschlungen. Firmen wie Upside Food (vormals Memphis Meat) ist es zwar mittlerweile gelungen, die Kosten auf rund 1000 Dollar pro Burger zu drücken. Aber das ist natürlich noch längst nicht massentauglich.
Trotzdem ist Upside-Food-Gründer Uma Valeri überzeugt, in absehbarer Zeit ein massentaugliches Produkt herstellen zu können. Paul Shapiro zitiert ihn wie folgt: «In zwanzig Jahren wird der grösste Teil des Fleisches, das wir essen, nicht mehr von geschlachteten Tieren stammen.»
Die Clean-Meat-Enthusiasten müssen jedoch noch eine weitere Hürde überspringen. Ausgerechnet die Menschen, die auf Märkten und in Bioläden einkaufen, sind gegen Fake-Fleisch. Obwohl Clean Meat nichts mit Gentech am Hut hat, lehnen sie es als Frankenstein-Food ab.
Die bekannte Ernährungswissenschaftlerin Marion Nestle (keine Verbindung zu Nestlé) etwa nennt Clean Meat «zum Kotzen». «Vielleicht wird es ja einmal dazu kommen», so Nestle. «Aber ich will nichts damit zu tun haben.»
Trotz des Ekels der Food-Fundamentalisten hat Clean Meat wahrscheinlich eine grosse Zukunft. Wie Sergey Brin richtig erkannt hat, gibt es schlicht keine Alternative dazu.
Was die Zukunft der Nahrungsmittelrevolution bringen wird, lässt sich erst in Umrissen erkennen. Die Gegenwart ist auf jeden Fall spannend. Wenn er vom Accelerator spricht, kommt Nestlé-Forschungschef Palzer geradezu ins Schwärmen: «Food ist heute cool. Alle wollen mitreden, alle wollen mitmachen.»
Habe selten einen so unkritischen Beitrag gelesen, klingt stellenweise wie ein Werbetrxt für Nestlé .