Es ist Tag eins der Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr. Der grossen Umgewöhnung. Auf Filmsets ist es schon seit Wochen so. Alle sind da maskiert. Die vom Film. Die von der Presse. Es sieht ein wenig aus wie eine Schulreise der Globi-Schule. Nur einer ist nicht maskiert. Der Filmstar. Martin Suter. Der Ex-Werber. Der Erfolgs-Kolumnist. Der Stephan-Eicher-Hit-Texter. Der internationale Bestbestbestseller-Autor. Auch in Deutschland immer zuvorderst, oft verfilmt, doch noch nie selbst Protagonist eines Kinofilms.
Unser Filmset liegt in Oerlikon, in der Überbauung Beckhammer, dreigeschossige gelbliche Blöcke aus den 50er-Jahren, dazwischen riesige Grünflächen, alte Bäume, es ist eine Blockidylle und von aussen so bieder, wie man sich die 50er vorstellt. Herzig und etwas miefig. Es hat seinen Charme, selbst die Büsis posieren hier possierlicher als anderswo. Vor einem Haus steht ein Lieferwagen und verspricht «... keine bösen Überraschungen!».
Nicht so wie in Suters Büchern, wo das Kleinbürgermilieu pulverisiert wird. Wo die Rauchwolken des Kriminellen, des Fantastischen, der psychischen Kernschmelzen über Siedlungen wie dem Beckhammer aufsteigen. Und im Falle von Suters Roman «Die Zeit, die Zeit» gar über dem Beckhammer selbst. Zwei Männer wohnen sich da im Buch gegenüber, Taler und Knupp, beide haben ihre Frau verloren und freunden sich darüber an, und während Knupp verzweifelt versucht, die Zeit ausser Kraft zu setzen und die Verstorbene im Back-to-the-Future-Modus wiederzufinden, löst Taler das Rätsel um den Tod seiner eigenen Frau.
Und deshalb wird hier gedreht. Wegen Taler, Knupp und Suter. Es wird ein Schriftsteller-Dokfilm von André Schäfer, Szenen aus den Romanen werden inszeniert, Suter spaziert darin herum und erklärt Dinge und das ist wie immer bei Dreharbeiten sehr, sehr langweilig. Suter geht über die Strasse. Suter geht noch einmal über die Strasse. Suter kommt die Strasse herab und geht an einer Garage vorbei. Und noch einmal.
Am Himmel hängen schwarze Regenwolken. Und dann setzen wir uns auf einer der vielen Wiesen in den Wind und unter die diversen Wolken und reden.
Martin Suter, in dieser Siedlung waren Sie Kind. Nun sind Kindheitsorte ja auch immer Orte von Heimholung. Wovon werden Sie hier heimgeholt?
Von einigem! Ich erinnere mich sehr deutlich an ein paar Szenen, obwohl ich nur bis fünf hier gelebt habe. Eine davon fand auf der Wiese vor unserem Block statt, der Gärtner installierte dort einen Sprinkler und fragte uns Kinder: Na? Wer getraut sich, auf den Sprinkler zu sitzen? Ich Tubel machte das und setzte mich mit den Kleidern auf den Sprinkler, meine Mutter hat es gesehen und den Gärtner zusammengestaucht. Ich erinnere mich an den Hauswart, ein böser Mann, der immer mit uns schimpfte.
Vielleicht noch etwas minimal Abgründigeres?
Ich erinnere mich daran, dass mein Zimmer eine Glastür hatte. Nun war ich damals der Sohn eines sehr jungen Paares und da geht eine Glastür natürlich nicht. Deshalb verhängte mein Vater die Tür mit einem der schwarzen Tücher, mit denen in der Filmkopieranstalt, wo er technischer Direktor war, die Dunkelkammern verkleidet wurden. Davor hatte ich Angst.
Vor dem Tuch?
Ja vor dem schwarzen Tuch. Ich lag im Bett und starrte es an.
Und ihr Kinderzimmer wurde selbst zu einer Art Dunkelkammer, in der sich Träume und Ängste entwickeln konnten.
Ja.
Jetzt sind wir ganz weit zurückgegangen. Aber betrachten wir doch einmal die nähere Vergangenheit. Was haben Sie in den letzten Monaten gelernt? Auch über sich?
Ich mache in meinem Beruf ja sowieso Homeoffice, das war nicht aussergewöhnlich. Neu war, dass unsere Tochter, die bald 14 wird, immer zuhause war. Wir mussten die Arme auch von ihren Freundinnen und Freunden isolieren, weil wir ja Hochrisikoleute sind. Aber wir sind so privilegiert, ein Haus mit Garten zu besitzen, und ich muss zugeben, dass es eigentlich eine schöne Zeit war. Ich dachte eher: Ach schade, jetzt ist das schon vorbei.
Und dann begann auch gleich die Filmerei. Wie ist es, wenn das eigene Leben verfilmt wird?
Komisch. Zuerst war ich skeptisch, aber jetzt finde ich es schön schräg, es werden ja Szenen aus allen meinen Büchern dargestellt und dann stolpere ich als Autor rein. Das hat schon was. Aber ich bin keiner, der sich Schriftstellerdokumentationen im Kino anschaut. Das würden Sie auch nicht, oder?
Eher nicht.
Ich ging früher auch nie an Lesungen. Ausser zu guten Freunden, damit nicht 12, sondern vielleicht 13 Leute im Publikum sassen.
Und jetzt besuchen Sie Lesungen?
Nein, eigentlich nicht. Eine normale Lesung ist, unter uns gesagt, langweilig.
Wir befinden uns nicht nur an einem Ort aus ihrer Kindheit, sondern auch dort, wo ihr Roman «Die Zeit, die Zeit» spielt. Auch in diesem gibt es, wie in anderen ihrer Romane, fantastische Momente, psychotische Momente. Und das ist ja das Paradox des Schriftstellers: Man schafft ungeheure Welten, führt aber selbst das langweiligste Leben. Man sitzt immer nur vor dem Computer. Was genau müssen Sie in ihren Büchern ausleben? Etwa Ängste aus der Dunkelkammer? Sehnsucht nach Abenteuer?
Ich lebe eigentlich nichts aus. Keine Ängste oder Obsessionen. Ich versuche, mich aus meinen Geschichten rauszuhalten. So gut es geht. Ich bin ja immer noch der, der sie schreibt.
Eben, die Kulisse ihres Romans ist Ihnen ja bestens vertraut.
Ja, «Die Zeit, die Zeit» spielt in einer Mischung aus dieser 50er-Jahre-Siedlung und Einfamilienhäusern. Nach dem Block zogen wir an den Eschenweg, in die eine Hälfte eines Zweifamilienhauses. Von denen sind jetzt einige abgerissen und durch nichts Schöneres ersetzt worden, eher ein wenig im Gegenteil. Natürlich kenne ich das. Eine ETH-Studentin, Julia Burgermeister, erhielt von ihrem Doktorvater, Prof Hurni, – oder sagt man jetzt etwa Bachelorvater? – für ihre Bachelorarbeit den Auftrag, das in «Die Zeit, die Zeit» beschriebene Quartier in einem 3D-Programm zu rekonstruieren. Es war verrückt, wie genau sie alles getroffen hat. Ich liebe es, Dinge genau zu beschreiben. Je genauer die Details sind, desto glaubwürdiger wird das Fiktive, das Unwahrscheinliche.
Das ist ja auch das Rezept hinter «Game of Thrones» oder «Harry Potter».
Genau, man denkt sich, ja klar, das ist alles möglich.
Sind Sie beim Schreiben glücklich?
Ich habe immer gern geschrieben, es ist mir auch immer leicht gefallen. Ich bin keiner, der den Weg des grössten Widerstandes sucht.
Ich halte Leidensdruck auch für die falscheste Herangehensweise.
Die Art von Literatur, die ich mag, die entsteht nicht aus Leiden, sondern aus Vergnügen. Ich habe auch noch nie etwas dagegen gehabt, wenn jemand meinte, ich schreibe nur Unterhaltungsliteratur. Genau das will ich ja. Es ist also eigentlich ein Kompliment.
Darf ich Ihnen noch eine politische Frage stellen?
Ja.
Gelegentlich positionieren Sie sich politisch, Sie haben sich etwa in einer Plakataktion der Wochenzeitung WOZ gegen die Durchsetzungsinitiative engagiert. Was halten Sie davon, dass Herr Blocher jetzt Geld will, auf das er mal vollmundig verzichtet hat?
Früher, als ich im Ausland lebte, antwortete ich auf Fragen zu Herrn Blocher: Das ist der Vorteil, Auslandschweizer zu sein, man muss sich nicht zu jedem Hennenschiss von Blocher äussern. Bei dieser Aussage möchte ich bleiben.
Und was bewegte Sie dazu, die linke WOZ zu unterstützen?
Sie ist eine gute Zeitung, ich finde es toll, dass sie keine Berührungsängste hat, denn Berührungsängste werden in den Medien immer bestimmender. Es gibt übrigens zwei Medien, die heute kommen wollten, da habe ich mein Okay nicht gegeben. Sie können sich ja ungefähr ausmalen, welche. Das eine ist ein ganzes Medienhaus. Das andere ist gar kein Medium, das ist eine Parteizeitung.