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Interview

Lulu Wang lügt aus Liebe. Daraus wird der Film «The Farewell»

The Farewell
Eine Familie holt für die kranke Matriarchin (mitte) Regenbögen, Hochzeiten und andere Höhepunkte vom Himmel.Bild: Ascot Elite
Interview

Sie lügt und lügt – aus Liebe. Und hat daraus ein kleines Filmwunder gemacht

Lulu Wang knackt mit ihrem komischen, traurigen Familienfilm «The Farewell» weltweit Herzen. Mit uns redet sie über ihren toughen Kampf um Gleichberechtigung in Hollywood, Essen und Erfolgsdruck.
27.12.2019, 18:2228.12.2019, 12:06
Simone Meier
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Lulu Wangs Grossmutter ist todkrank. Lulu Wang lebt seit Jahren in Amerika, ist ausgebildete klassische Pianistin und Filmregisseurin. Ihre Grossmutter lebt in China und weiss selbst nicht über ihren Zustand, denn der Arzt glaubt an die chinesische Tradition der «guten Lüge». Und so kommt die ganze Familie in China zusammen. Angeblich zur Hochzeit von Lulu Wangs Cousin. Tatsächlich, um mit der Grossmutter so viele Feste zu feiern, bis sie glücklich ins Grab fällt.

Und dann? Überlebt die alte Frau! Und weiss bis heute nichts über das liebenswürdige Geheimnis ihres Nachwuchses. Was sie auch noch nicht weiss: Dass ihre Enkelin nun genau diese Geschichte verfilmt hat. Im Film heisst Lulu Wang Billi und wird von der Rapperin Awkwafina gespielt, die als Kind wie Lulu Wang ein paar Jahre bei ihrer Grossmutter in China lebte.

«The Farewell» ist die schönste geheime Liebeserklärung, die je eine Enkelin ihrer Grossmutter gemacht hat, eine verrückte, zärtliche, surreale Geschichte, die nachhallt und ans Herz greift. Und sie ist – ein Welterfolg. Ich traf Lulu Wang unter olfaktorisch prekären Umständen in einem Zürcher Hotel.

Writer and director Lulu Wang, left, and actress Awkwafina pose at the premiere of "The Farewell" during the 2019 Sundance Film Festival, Friday, Jan. 25, 2019, in Park City, Utah. (Photo by ...
Lulu Wang (links) und Awkwafina.Bild: Danny Moloshok/Invision/AP/Invision

Die Luft hier drin ist ja fürchterlich.
Ja, oder? Gerade sassen sieben Journalisten um diesen Tisch.

Horror!
Irgendwie kriegen wir die Aircon nicht an.

Wieso gehen wir nicht in den Garten? Es ist etwas frisch, aber die Sonne scheint.
Oh, darf ich das? Bitte! (Wir gehen in den Garten.)

Sie haben mit «The Farewell» einen Film über Ihre Grossmutter gedreht und ihr bis heute nichts davon gesagt. Denken Sie nicht, dass es angesichts sehr wahrscheinlicher Oscar-Nominierungen langsam an der Zeit wäre?
Darüber mach ich mir lieber noch keine allzu grossen Gedanken. Weder über die Oscars noch über meine Oma. Aber natürlich diskutieren wir innerhalb der Familie, wie und wann wir ihr das mitteilen könnten. Wir haben beschlossen, das Problem Schritt für Schritt anzugehen.

Stimmt es, dass Sie Teile des Films ganz in der Nähe Ihrer Grossmutter drehten und sie trotzdem nichts bemerkte?
Wir drehten Aussenszenen in ihrer Stadt und in ihrer Nachbarschaft. Meine Grossmutter schaute zu. Aber wenn Sie diese Szenen sehen, merken Sie, dass darin nie über «die Sache» gesprochen wird. Meine Grossmutter wusste bloss, das es irgendwie entfernt ein Film über unsere Familie ist. Nicht zuletzt, weil ihre Schwester mitspielt. Die stand in ihrem Leben noch nie vor der Kamera und war sehr skeptisch, sie sagte: «Ich bin kein Filmstar, ich bin nicht schön genug!» Jetzt ist sie ungeheuer stolz.

Der Trailer

Wie in jedem chinesischen Film spielt auch bei Ihnen das Essen eine riesige Rolle. Die Familie versammelt sich andauernd um üppig gedeckte Tische.
Essen ist für die chinesische Kultur so zentral wie Berge für die Schweiz, man kann es einfach nicht vermeiden. Bei mir hat Essen eine etwas andere Rolle, ich wollte nicht, dass die Leute sagen: «Wow, toll, wie das aussieht!» Essen gehört bei mir einfach zur Textur des Alltags. So wie Tische, Stühle oder die chinesische Sprache. Aber es gibt diese eine Szene, in der ich Spannung über Essen ausdrücken wollte: Essen zu geben und zu empfangen ist ein Ausdruck von Liebe und Lebensfreude. Etwa bei einem Festmahl. Aber wenn man trauert, hat man keinen Appetit.

So wie Billi?
Ja, Billi trauert. Sie möchte nicht essen, aber sie muss. Denn wenn sie nichts isst, verrät sie das Geheimnis. Sie zwingt sich also zu essen, denn sonst fragt die Grossmutter: «Geht’s dir schlecht? Und wieso?» Natürlich wird dies für Billi immer schwieriger, weil im Lauf des Films immer grössere Berge von Essen aufgetragen werden. Dieser Konflikt ist meine Visualisierung der Lüge.

Ihr Film und seine Entstehungsgeschichte sind für mich eine erfrischend andere Sicht auf das Konzept der Lüge. Die Lüge wird zu einem Akt der Nächstenliebe.
Man kann eine Lüge nach ihrer Faktizität bemessen. Man kann sagen: Was Trump sagt, stimmt nicht. Aber wir sprechen viel zu wenig über die Absicht hinter einer Lüge. Vordergründig mag etwas wie eine Lüge aussehen, aber es geht dabei auch um die Absicht, den Kontext. Heute, im Zeitalter von Social Media, wird zu vieles aus dem Kontext gerissen. Man hat ein kurzes Zitat – aber wo gehört es hin? Ist es, in seinem ursprünglichen Zusammenhang gesehen, vielleicht gar nicht böse, sondern ironisch? Oder das Gegenteil? Ist etwas, das wir für ironisch halten, im Kontext vielleicht total rassistisch? Sowas ist unendlich wichtig. Aber es verlangt ein aufmerksames, bewusstes Publikum. Und die Leute wollen nicht nachdenken. Sie wollen, dass man ihnen simple Antworten auftischt, egal ob gute oder schlechte.

The Farewell
Dieser Horror, wenn Liebe durch den Magen gehen muss. Awkwafina als appetitlose Billi.Bild: Ascot Elite

Apropos bewusst und sensibilisiert: Wie hat sich Hollywood aus Ihrer Sicht verändert?
Vielen ist Hollywood heute zu politisch korrekt, zu viel «MeToo», zu «woke», also zu «aufgewacht», zu bewegt, zu aktivistisch. Aber ich finde das gut! Denn was ist das Gegenteil von «woke»? «Asleep»! Schlafend! Und geschlafen haben wir doch Jahrhunderte lang. Jetzt gerade haben so viele Frauen und People of Color eine Stimme und Einfluss wie noch nie. Es ist eine richtige Geburtsstunde für uns. Und wenn jemand diesen Moment und diese Menschen kritisiert, so nehme ich das sehr persönlich.

Trotzdem hatten Sie grosse Mühe, Geld für «The Farewell» zu finden. Weil das Ensemble ein rein asiatisches ist, weil der Film zu 75 Prozent untertitelt werden musste, was Amerikaner nicht mögen. Der grosse Erfolg Ihres Films muss sehr befriedigend sein, oder?
Ja, aber Erfolg erzeugt auch unfairen Druck. Wenn ich als rare asiatische Regisseurin mit einem Film erfolgreich bin, aber mit dem nächsten nicht mehr, habe ich schon verloren. Und mit mir kriegt dann auch die andere asiatische Regisseurin, die vielleicht auch gerade einen Film machen will, kein Geld. Alles, was ich mache, ist gleich repräsentativ für die ganze Community. Niemand käme auf die Idee, zu sagen: «Ein weisser männlicher Regisseur hat versagt, also geben wir keinem weissen Mann mehr Geld für einen Film!» Es gibt ja so viele von ihnen, da hat ein Misserfolg keine Konsequenzen.

Lulu Wang, left, and Barry Jenkins arrive at the Oscars on Sunday, Feb. 24, 2019, at the Dolby Theatre in Los Angeles. (Photo by Richard Shotwell/Invision/AP)
Auch das ist Liebe: Lulu Wang und Barry Jenkins.Bild: Richard Shotwell/Invision/AP/Invision

Sie sind mit Barry Jenkins liiert, dessen schwule, schwarze Liebesgeschichte «Moonlight» 2017 drei Oscars gewann. Sind Sie beide sowas wie ultimative Diversity-Power-Couple von Hollywood?
Ich weiss nicht, ob wir das ultimative sind, aber jedenfalls das einzige hinter der Kamera, das ich kenne.

Und wie ist das so?
Enorm hilfreich! Kein Mensch versteht, was Regie zu führen eigentlich bedeutet. Der irre Zeiteinsatz, all die privaten Verabredungen, die dauernd wieder abgesagt werden müssen, die Reisen, die unendliche Flexibilität, allein das verlangt jemanden, der das nachvollziehen kann. Und dann ist da noch die andere Seite: Wenn Barry Vertragsverhandlungen führt, bringt er erst in Erfahrung, wie viel ein weisser Regisseur mit seinem Renommee verdienen würde. Was man Barry anbietet, ist immer schlechter. Er verhandelt so lange, bis er gleich viel kriegt wie der andere.

Welche Konsequenzen hat das für Sie?
Wenn ich verhandle, tu ich das so lange, bis ich gleich viel kriege wie Barry. Am Ende haben wir beide gleich viel wie der weisse Mann. Und ich betreibe ein Netzwerk mit befreundeten Regisseurinnen, die alle Women of Color sind, wir checken die Angebote und fragen uns: «Ist das ein wirklich guter Deal oder ist das bloss ‹ein guter Deal für eine Frau›?»

Das klingt bewundernswert hartnäckig.
Ohne absolute Transparenz ist Gleichberechtigung nicht möglich. Und ohne Community auch nicht. Wenn ich Sorgen habe, will ich mich damit an eine Gemeinschaft wenden können, die mich versteht.

«The Farewell» läuft jetzt im Kino und ist für zwei Golden Globes nominiert.

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5 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Kollani
27.12.2019 20:22registriert Januar 2017
Tolles Interview!!! Diesen Film möchte ich sehen💛
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