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TikTok-Tanz «Anxiety» – warum mir das zu denken gibt

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Tausende tanzen zum Song «Anxiety» – warum mir das zu denken gibt

Ein Song über psychische Gesundheit flutet die sozialen Medien – und wird wegen seiner fröhlichen Melodie ausgerechnet zum Tanztrend. Das gibt mir zu denken.
29.03.2025, 15:1929.03.2025, 15:19
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Jede Generation entwickelt ihre eigene Form der sozialen Rebellion – oft verkörpert durch Musik. Die Stile haben sich gewandelt, aber etwas ist beständig: Musik ist nach wie vor ein Werkzeug, um gesellschaftliche Normen infrage zu stellen oder Veränderungen anzustossen.

Musik bewegt – nicht nur auf TikTok

Denn kaum ein anderes Medium kann mit unseren Emotionen so stark in Resonanz treten wie Musik: Sie regt zum Nachdenken an, verstärkt Gefühle, treibt uns zu Höchstleistungen, ruft Erinnerungen hervor, schafft neue und begleitet uns durch schwierige Zeiten.

In Musiktexten können wir uns wiederfinden und verstanden fühlen – das ist besonders wertvoll für Menschen mit psychischen Erkrankungen, die noch immer mit Stigmatisierung kämpfen.

Doch sensible Themen aufzugreifen, erfordert viel Fingerspitzengefühl. Der richtige Ton ist entscheidend – sowohl musikalisch als auch sprachlich.

Der Song «Anxiety» der Rapperin Doechii trifft beides nicht. Der Titel deutet zwar auf ein tiefgründiges Stück hin, doch das Ergebnis ist weit davon entfernt.

Der Refrain klingt wie ein Partysong. Er lädt zum Tanzen ein. Man kann ihn leicht mitträllern. Ja, er bleibt einem gar ein bisschen in den Ohren hängen.

Fröhliche, unbeschwerte Musik. Schnell geht vergessen, worum es eigentlich geht: Angststörungen.

Der Refrain

Anxiety
Keep on trying me
Feel it quietly
Tryna silence me
Anxiety
Shake it off of me
Somebody's watching me
It's my anxiety

Statt das Bewusstsein für das Thema zu schärfen, wird der Song durch die leichte Melodie eher trivialisiert und verliert die nötige Ernsthaftigkeit. Und das ist bedenklich.

Das Lied enthält Samples des Songs «Somebody That I Used to Know» von Gotye feat. Kimbra aus dem Jahr 2011, der wiederum Samples aus «Seville» des brasilianischen Sängers Luiz Bonfá enthält.Video: YouTube/IamdoechiiVEVO

Denn: Angststörungen sind eine der am weitesten verbreiteten psychischen Erkrankungen weltweit und können die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. In der Schweiz sind rund 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens davon betroffen. Die Thematik verdient es also, mit mehr Sensibilität und Tiefe behandelt zu werden.

Nur ein Beispiel von vielen

«Anxiety» ist nur ein aktuelles Beispiel. Der Song reiht sich in eine Reihe von vielen ein, die es versäumen, Bewusstsein für mentale Gesundheit zu schaffen.

Unter dem Song gibt es über 2,5 Millionen Videos auf TikTok.
Unter dem Song gibt es über 2,5 Millionen Videos auf TikTok.

Problematisch ist «Anxiety» aber vor allem, weil er auf TikTok gerade durch die Decke geht. Menschen tanzen, summen die Lyrics «It's my anxiety» und tun dies mit einer Leichtigkeit, die dem ernsten Thema vollkommen widerspricht.

Über die Interpretin
Doechii ist eine US-amerikanische Rapperin. Die 24-Jährige nahm ihren Song «Anxiety» ursprünglich 2019 auf dem Sofa auf. Nachdem der Track auf Social Media viral gegangen war, wurde er neu aufgenommen und Anfang März 2025 veröffentlicht. «Anxiety» wurde Doechiis erfolgreichster Song und erreichte Platz 1 in den Charts mehrerer Länder, darunter der Schweiz.

Der Inhalt des Songs ist in den sozialen Medien schon so stark in den Hintergrund geraten, dass es nun einen Tanztrend zu «Anxiety» gibt. Dabei wird eine ikonische Szene aus «Der Prinz von Bel-Air» von Will Smith nachgestellt.

Das sieht so aus:

@willsmith I’ve been watching y’all and every video has been better than the last!! Love that track @Doechii. @Tatyana Ali ♬ original sound - Franklin Saint

Das triggert mich – und zwar als Nichtbetroffene. Ich frage mich: Wie muss es sich anfühlen, wenn man unter Angststörungen leidet – und das Thema so leichtfertig weggetanzt behandelt wird?

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79 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Garp
29.03.2025 16:22registriert August 2018
Vielleicht ist es manchmal gar nicht schlecht Angst wegzutanzen. Und dann raus gehen und sich gestärkt der Angst stellen.
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Ulknudel
29.03.2025 17:15registriert Mai 2022
Ich selbst habe Depressionen und wenn ich in einer depressiven Phase bin und melancholische Lieder höre (rein von der Melodie), dann verstärkt es das sogar. Höre ich aber beschwingtere Melodien, erheitert es mich eher. Vor vielen Jahren kam der Song „die immer lacht“ von Kerstin Ott raus, wo es auch um eine depressive Frau geht, die Melodie ist nicht melancholisch, daher höre ich genau dieses in solchen Situationen gern, weil es mich sogar aufbaut.

Jeder geht anders damit um, daher würde ich nicht pauschal urteilen. Danke für den Tip, es wird in meine Playliste aufgenommen.
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Bruno Wüthrich
29.03.2025 15:45registriert August 2014
Zwei Dinge, die mir dazu spontan einfallen:

1.) So geht es vielen (eigentlich fast allen), mit der zunehmenden Anzahl Lebensjahren. Es geschehen Dinge, die einem zu denken geben, und zum Teil kommen sie von jüngeren Generationen. Bei Frau Stäubli ist dies der Anfang, andere sind da weiter fortgeschritten (im positiven wie im negativen).
2.) Man muss das, was da neu kommt (von welcher Generation ist unerheblich) nicht unbesehen gutheissen, sondern hinterfragen und für sich selber entscheiden, ob man mitmachen will oder nicht. Mit anderen Worten: man muss nicht alles gut finden und mitmachen.
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