Man wird gejagt und verfolgt, stürzt hinunter, kommt zu spät oder fliegt davon: Das sind Träume, die wohl die meisten schon einmal erlebt haben. Jede Nacht träumt man, stundenlang. Erinnern aber kann man sich in der Regel an ein bis zwei Minuten. Wenn überhaupt.
Die nächtlichen Botschaften des Gehirns fasziniert die Menschheit seit Jahrtausenden. Schon in der Antike schrieb man Träumen eine tiefere Bedeutung zu und glaubte, es handle sich um geheime Botschaften von höheren Mächten. Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, dachte wiederum, dass Träume unsere intimsten Wünsche enthalten. Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist das unwahrscheinlich.
Vielmehr geht man heute davon aus, dass sich das Wachleben im Traum gewissermassen fortsetzt, man spricht von der sogenannten Kontinuitätshypothese. So träumen schwangere Frauen beispielsweise häufiger von Babys als Nichtschwangere. Oder wer viel Musik macht und hört, dessen Träume enthalten auch mehr Musik.
Auch eine kürzlich publizierte Studie untermauert die Kontinuitätshypothese. Das internationale Forschungsteam mit Beteiligung der Universität Genf verglich Träume von zwei Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, den BaYaka in der Demokratischen Republik Kongo und den Hadza in Tansania, mit denjenigen von Personen aus der Schweiz, Belgien und Kanada.
Die zwei nicht westlichen Gemeinschaften sind stark auf persönliche Beziehungen angewiesen, um zu überleben, da ein soziales Auffangnetz wie die staatliche Altersvorsorge nicht existent ist. Zudem verzeichnen sie höhere Sterblichkeitsraten als westliche Gesellschaften. Dies aufgrund von Krankheiten oder Konflikten zwischen rivalisierenden Gruppen.
Wie die Forschenden nun herausgefunden haben, widerspiegeln die Träume sehr genau die unterschiedlichen Lebensstile wieder. Die Träume der Jäger und Sammler begannen demnach häufig mit Bedrohungen und endeten mit Lösungen, die soziale Unterstützung beinhalten. Ein Beispiel für einen Hadza-Traum: «Ich habe geträumt, dass mich ein Büffel angegriffen hat. […] Da war ein anderer Mann namens January, der kam und half mir.»
Die Traumberichte der westlichen Gesellschaften beinhalteten eher soziale Bedrohungen, etwa Ächtung, Ausgrenzung, Scham, Statusverlust, und gingen seltener gut aus. Ein Beispiel lautete: «Ich war mit meinem Freund zusammen, unsere Beziehung war perfekt und ich fühlte mich vollkommen erfüllt. Dann beschloss er, mich zu verlassen, was in mir ein tiefes Gefühl der Verzweiflung und des Schmerzes auslöste.»
Seit Sigmund Freud im Jahr 1899 sein Buch «Die Traumdeutung» vorgelegt hat, werden Träume als Hilfsmittel in der Psychotherapie verwendet. So auch von Christian Roesler, Professor für klinische Psychologie an der Universität Basel und der Katholischen Hochschule Freiburg. Er sagt: «Wenn ich von einer Person nichts weiss, aber ihre Träume kenne, kann ich ein psychologisches Profil von ihr erstellen.» Diese Ansicht vertritt auch der amerikanische Traumforscher und Psychologe Kelly Bulkeley: «Geben Sie mir hundert Träume, und ich sage Ihnen, wer Sie sind», behauptet er.
Besonders wertvoll an Träumen ist gemäss Roesler, dass durch sie Bilder aus dem Unbewussten auftauchen, die das Bewusstsein im Wachzustand ausblendet, vor allem auch Unangenehmes. Auch Erfahrungen aus früheren Lebensphasen, insbesondere aus der Kindheit, die Schwierigkeiten im Erwachsenenleben auslösen, werden im Traum präsent. «Indem man Träume analysiert, gelangt man schneller zu den eigentlichen Problemen», so Roesler. Der Traum sei quasi ein Fenster zur Psyche.
Emotionale Konflikte, egal ob sie aus der Gegenwart oder der Vergangenheit stammen, manifestieren sich im Traum in bildhafter Weise. Das zeigt sich exemplarisch in Angstträumen. Zum Beispiel, wenn man davon träumt, auf einer Insel zu stehen und um einen herum steigt das Wasser immer höher und höher, bis man fast ertrinkt. Das könnte symbolisch dafür stehen, dass man das Gefühl hat, in Arbeit zu ertrinken. Oder man träumt, dass alles um einem herum niederbrennt – womöglich ein Zeichen für die verspürte Sorgen darum, dass alles, was man im Leben aufgebaut hat, kaputtzugehen droht.
Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker betonen zudem, dass sich in Träumen das Unwichtige oftmals gross im Vordergrund präsentiere, das Wichtige hingegen nur im Kleinen, im Detail. Man nimmt an, dass diese Verschiebung dazu dient, die Zensur des Bewusstseins zu überwinden, das von den schmerzlichen Erinnerungen oder Gefühlen lieber nichts wissen möchte.
Christian Roesler beschreibt das allgemeinste Traummuster wie folgt: Das Traum-Ich sieht sich mit einer Aufgabe konfrontiert, die gewaltige Schwierigkeiten birgt, aber erfüllt werden muss. Ein typisches Beispiel beschreibt er in einer Studie zu Traummustern von Patienten in Psychotherapie: Das Traum-Ich wird von einer bösen Gestalt bedroht, es fühlt sich machtlos, versucht zu fliehen, wird verfolgt.
Wie Roesler beobachtet, verändern sich solche Träume im Verlauf einer Psychotherapie. Im besagten Verfolgungstraum ändert das Traum-Ich seine Reaktion auf die Bedrohung. Statt zu fliegen, kämpft es aktiv gegen die Gestalt und schafft es am Ende, die Bedrohung zu überwinden.
Auf der Strategie, sich einer Bedrohung aktiv zu stellen, beruht auch die wissenschaftlich belegte Behandlung gegen Albträume: Die sogenannte Imagery-Rehearsal-Therapie. Dabei spielen Betroffene die furchteinflössenden Träume im Wachzustand noch einmal im Kopf durch. Nur stellt man sich die Geschichte mit einem positiven Ende vor.
Laut der Neurologin Isabelle Arnulf von der Universität Sorbonne werden Menschen, die an psychischen Störungen wie Depressionen, Angsterkrankungen oder posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, häufiger von Albträumen geplagt. Diese korrelierten auch mit einem erhöhten Suizidrisiko, erzählte die Forscherin in einem Interview mit dem französischen Magazin «Cerveau & Psycho». Deshalb würden wiederholte Albträume seit Neuestem in die Diagnostik von Suizidalität mit einbezogen.
Eines der grössten Rätsel der Wissenschaft ist nach wie vor, warum wir überhaupt träumen. Lange hielten vor allem Neurowissenschafter die nächtlichen Fantasien für reine Nervengewitter ohne tiefere Bedeutung, ein Ergebnis chaotischer neuronaler Entladungen. Diese Theorie hat mehr und mehr Anhänger verloren.
Verbreitet ist demgegenüber eine Theorie, die besagt, dass der Traum hilft, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, also das Erlebte aufzuräumen. Denn im Wachzustand wird das Gehirn mit neuen Informationen bombardiert, es werden Nervenverbindungen angelegt, die letztlich unwichtig sind und sogar stören können. «Mentale Simulation in Träumen könnte also dazu dienen, die Komplexität der im Wachzustand angelegten Zusammenhänge zu reduzieren», hielten Fred Mast und Andrew Ellis, Psychologen der Universität Bern, in einem Beitrag fest.
Eine andere Theorie geht davon aus, dass Träume ein mentales Trainingsprogramm für potenziell gefährliche Situationen im wahren Leben darstellen. Demnach können wir im Schlaf üben, vor Feinden zu fliehen oder mit peinlichen Situationen umzugehen. Wahrscheinlich helfen Träume auch, Emotionen zu regulieren.
Und nicht nur das: Träume geben kreative Anregungen – gesetzt, man kann sich an sie erinnern. Das lässt sich trainieren, indem man direkt nach dem Aufwachen, noch mit geschlossenen Augen, den Traum Revue passieren lässt und ihn danach in einem Tagebuch festhält. Dass sich das für die Kreativität ausbezahlt, zeigen prominente Beispiele: So erschien Paul McCartney der Popsong «Yesterday» angeblich im Traum. Salvador Dalís Kunstwerke sollen sich im Traum manifestiert haben.
Aber auch bei der Normalbevölkerung können Träume kreative Inspirationen hervorrufen, wie eine Studie des Traumforschers Michael Schredl vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim mit über tausend Teilnehmenden gezeigt hat. Acht Prozent der Träume beeinflussten demnach die Kreativität, welche die Teilnehmenden in künstlerische Tätigkeiten einfliessen liessen. Oder sie nutzten sie, um arbeitsbezogene Probleme zu lösen, oder sie liessen sich dazu inspirieren, Dinge zu tun, die sie sich vorher nicht getraut hätten – beispielsweise, jemanden anzusprechen.
Solche Muster beobachtet auch Christian Roesler immer wieder: «Träume liefern kreative Lösungsvorschläge, auf die man im Wachzustand lange nicht oder nie gekommen wäre.» (aargauerzeitung.ch)