Netflix-Doku «Unbekannte Nummer: Der Highschool-Catfish» lässt mich mit 100 Fragen zurück
Achtung: Der folgende Text enthält Spoiler zur Dokumentation «Unknown Number: The High School Catfish» sowie sensible Inhalte zu Suizid und psychischer Gewalt.
Herzrasen, Aufregung, Verlegenheit, die ersten Gefühle der Verliebtheit: Lauryn und Owen, beide 13, erleben all das zum ersten Mal. Sie leben in Beal, einer Kleinstadt in Michigan, in der jeden jeden kennt – oder zumindest zu kennen glaubt.
Die Eltern der beiden freunden sich an, und zunächst wirkt alles wie ein typischer Teenageralltag.
Etwa ein Jahr nach Beginn der Beziehung erhält Lauryn erstmals anonym Nachrichten, die darauf abzielen, das junge Paar auseinanderzubringen. Der Plan scheitert. Zunächst.
Ein Jahr lang scheint alles ruhig. Dann beginnt der wahre Albtraum: Das Paar wird täglich mit 40 bis 50 bösartigen und teilweise sehr vulgären Nachrichten zugetextet.
Nicht nur Lauryn wird mit obszönen und beleidigenden Nachrichten terrorisiert, sondern auch ihr Freund Owen, vor allem nachts. Doch die Nachrichten erreichen die beiden auch während des Unterrichts. Die Eltern und die Schulleitung schalten sich ein und versuchen, mithilfe von Videokameras herauszufinden, wer hinter den Nachrichten steckt. Zahlreiche Verhöre folgen, Verdächtigungen machen die Runde. Die ganze Schule ist in Aufruhr.
Blockieren kann das junge Paar die Nummer nicht, der Absender nutzt Apps, die ständig neue Rufnummern generieren.
Lauryn beginnt, Owen immer mehr zu misstrauen. Hat er etwas mit einer anderen? Steckt er dahinter? Schliesslich trennt sich das Paar, nach zwei Jahren, in denen sie eigentlich sehr glücklich miteinander waren.
Doch die Trennung bringt kein Ende der Belästigungen. Im Gegenteil – die Nachrichten werden immer persönlicher und manipulativer. Der anonyme Absender kennt Lauryns Ängste und Unsicherheiten genau. Er kommentiert, wie sie sich kleidet, wie sie bei Sportwettkämpfen auftritt. Jeder Text ist ein Hinweis auf sein Stalking.
Dann kommt die Nachricht, die alles übertrifft: Die unbekannte Nummer fordert sie auf, Suizid zu begehen.
Die Polizei schaltet sich ein, tappt jedoch lange im Dunkeln. Doch dann folgt der Durchbruch: Das FBI kann die anonyme Nummer zurückverfolgen – und enthüllt eine schockierende Wahrheit: Die Nachrichten stammen von Lauryns Mutter Kendra.
Die eigene Mutter, die ihre Tochter während zwei Jahren drangsalierte? Die scheinbar erfolgreiche Informatikerin, engagierte Basketballlehrerin und Freundin von Owens Eltern?
Kendra bekennt sich schuldig. «Ihr denkt bestimmt, ich bin verrückt», sagt sie im Film. Ihre Beweggründe erklärt sie so: Sie habe ihre Tochter schützen wollen. Die Nachrichten seien an sie selbst gerichtet gewesen und seien für sie eine Flucht aus der Realität gewesen.
Nach der Enthüllung kommen weitere Details ans Licht: Niemand, nicht einmal ihr Ehemann, wusste, dass sie schon länger arbeitslos war. Sie spielte der ganzen Familie etwas vor. Zudem behauptet sie, ein Missbrauchstrauma mit sich zu tragen.
Gewalt an Kindern und Jugendlichen
Erlebst du in deiner Familie körperliche oder physische Gewalt oder möchtest einfach mit jemandem reden? Hol dir Hilfe, du bist nicht allein.
Willst du mit jemandem über deine Ängste und Sorgen reden, kannst du dich hier oder unter der Telefonnummer 147 melden.
Eine umfassende Liste mit offiziellen Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche, Eltern oder andere Personen zu verschiedenen Themen findest du für die ganze Schweiz hier.
Wenn du dich sexuell von Kindern oder Jugendlichen angezogen fühlst, kannst du dich kostenlos an die Beratungsstelle Beforemore wenden: 0800 222 333.
Immer wieder versucht Kendra, ihr Handeln zu rechtfertigen – nicht selten durch skurrile und verherrlichende Vergleiche: «Realistisch gesehen haben viele von uns schon einmal das Gesetz gebrochen, sind dabei aber nicht erwischt worden. Ich bin mir sicher, dass viele schon betrunken Auto gefahren und davongekommen sind.»
Kendra wurde 2022 verhaftet und verbrachte rund zwei Jahre im Gefängnis. Während ihrer Haft suchte sie immer wieder Kontakt zu ihrer Tochter. Sie schrieb ihr liebevolle Nachrichten, telefonierte regelmässig. «Ich kann nicht ohne meine Mutter», sagt Lauryn. Inzwischen ist sie 18 Jahre alt und hofft, in Zukunft wieder eine Beziehung zu ihrer Mutter aufbauen zu können. Derzeit dürfen sich die beiden aber nicht treffen. Der Grund dafür wird nicht erwähnt.
Und dies ist nicht die einzige Frage, die offen bleibt.
Warum haben Lauryn und Owen ihre Nummer nie gewechselt? Wie konnte der Vater nichts mitbekommen? Sind die Betroffenen in psychologischer Betreuung? Gibt es für das Verhalten der Mutter eine psychische Erklärung? War dies ein Fall von virtuellem Münchhausen-Stellvertretersyndrom? Und wie lässt sich die emotionale Bindung der Tochter psychologisch erklären?
Die Doku fesselt und beleuchtet die Ereignisse zwar aus verschiedenen Perspektiven, legt aber einen starken Fokus auf die Täterin. Einmal entsteht gar der Eindruck, dass die Macher selbst eine Rechtfertigung für ihr Handeln suchen, etwa die Frage: «Kann es sein, dass dir die Nachrichten selbst schreiben wolltest?»
Und zuletzt stellt sich, wie so oft, die Frage: Wie weit soll oder darf Sensationsdarstellung gehen?