Als Ozempic Ende 2021 das Licht des Weltmarktes erblickte, war klar: Das geht schnell. Jetzt bricht eine neue, noch nie dagewesene Ära des «Lipstick-Effects» an. Der Lipstick-Effect besagt, dass es der Kosmetikbranche in Krisenzeiten besonders gut geht. Dass (vor allem) Frauen alles daran setzen, eine Fassade des Wohlbefindens, der Selfcare und eines vermeintlichen Wohlstands aufrechtzuerhalten. Dass sie versuchen, den Versehrungen der Gegenwart, seien das Wirtschaftskrisen oder Kriege, etwas Schönheit und Integrität entgegenzusetzen. Man will sich der feindlich gewordenen Welt gegenüber nicht verletzlich zeigen.
Das stellte man schon während des Zweiten Weltkriegs fest. Der Lippenstift, die Mascara, das Parfum wurden zur winzigen Wohltat, die sich jede Frau noch knapp leisten konnte, wenn sonst kein Luxus mehr möglich war. In Grossbritannien wurde die Herstellung von Kosmetika auch unter Kriegsbedingungen fortgesetzt: Frauen, die sich weiterhin um ihre Erscheinung sorgten, so die Meinung, verwahrlosten auch moralisch nicht und waren für den Kriegseinsatz zuhause besser zu gebrauchen.
Zum ersten Mal wurde der Begriff Lipstick-Effect 1998 von der amerikanischen Soziologin Juliet Schor erwähnt, doch so richtig offiziell lanciert wurde er 2001, als Leonard Lauder von Estée Lauder nach der Terrorattacke von 9/11 eine auffallende Zunahme im Verkauf von Kosmetika feststellte. Ebenso während der Finanzkrise von 2008. Und während der ersten Amtszeit von Donald Trump. Doch das war alles harmlos. Rührend geradezu.
Denn der neue Lippenstift heisst Ozempic oder Wegowy oder Zepbound und schafft, was bisher noch keine Diät geschafft hat: Das Medikament erlöst die Menschheit von der grauenhaften, unerträglichen, niederschmetternden Geissel des nicht ganz korrekten Körpergewichts. Und dies ganz ohne Fettabsaugen, Magenband oder schmerzhaften Genussverzicht – der stelle sich ganz angenehm wie von selbst ein, sagen Leute, die auf Ozempic sind, man habe halt einfach keine Lust mehr am Essen. Magisch gewissermassen. Nur vor Spritzen darf man keine Angst haben, aber wer hat das noch seit Botox?
Im Falle von schwer übergewichtigen Menschen ist die Entdeckung der sogenannten GLP-1-Medikamente natürlich bahnbrechend, ohne jede Frage. Verrückt und erschreckend ist bloss, wie schnell die Abnehmspritzen ihren Weg in den Mainstream geschafft haben. Gefühlt in einem halben Jahr.
Im Januar 2025 sagte Moderatorin Nikki Glaser an den Golden Globes: «This is Ozempic's biggest night» – und meinte damit nicht radikal erschlankte Filmstars wie Kathy Bates, Jesse Plemons, Demi Moore oder Cynthia Erivo, sondern auch das Sponsoring der Veranstaltung durch Eli Lilly, dem Pharmaunternehmen, das Zepbound herstellt (und soeben eine ähnlich wirksame Abnehmpille erfunden hat). Die Werbepausen wurden mit entsprechenden Clips gefüllt.
Einige Promis streiten trotz sichtbaren Gewichtsschwunds die Anwendung von Abnehmspritzen hartnäckig ab. Die weltweit bewunderte Spitzensportlerin Serena Williams dagegen steht dazu, dass sie auf Zepbound steht: Die Abnehmspritze wird von einem TV-Gesundheits-Kanal vertrieben, in dessen Verwaltungsrat ihr Mann sitzt. Noch nie habe sie sich so wohl gefühlt in ihrer Haut wie jetzt, sagt Williams. It's capitalism, stupid.
Eine Industrie ist eine Industrie ist eine Industrie. Und jede Industrie ist dazu da, Bedürfnisse zu erkennen oder zu schaffen, denn schliesslich muss sie wachsen. Und deshalb hat sie im Ozempic-System auch schon die nächste Goldgrube entdeckt: Das «Ozempic-Face».
Es ist eine alte Regel: Wenn Fett schnell verschwindet, so verschwindet es am schnellsten aus dem Gesicht. Denn die Folge sind eingefallene Wangen, sichtbare Falten, härtere Konturen, so beschrieb es die Schweizer Beauty-Unternehmerin Alexandra Lüönd neulich im Blick. Und siehe da, die plötzlich viel älter aussehenden Ozempic-Gesichter müssen wieder repariert werden, «Volumenwiederherstellung» nennt sich das. Was am einen Ort weggespritzt wird, muss am anderen Ort wieder hineingespritzt werden. Wo am einen Ort eine neue Zufriedenheit entsteht, bildet sich am anderen eine Unzufriedenheit. Die Industrie wächst.
Die Modeszene reitet begeistert auf der neuen Körper-Optimierungswelle mit: Models wurden über Nacht wieder spindeldürr, es ging zurück zum Heroin Chic der blutjungen Kate Moss, sowieso zurück in eine Vergangenheit, die wir überwunden zu haben glaubten. Die ganzen Behauptungen von Body Positivity, welche die Werbe- und die Modebranche die letzten Jahre über herumtrompetet hatten, erwiesen sich als mühselige, woke Verrenkungen, aus denen man sich endlich wieder befreien konnte. Als Religion, an die niemand so richtig geglaubt hatte.
Endlich kann man sich wieder entspannen, der Körper einer Frau muss nun mal einfach dünn sein, ihr Gesicht dafür jugendlich prall, auch wenn dies biologisch gesehen nicht zusammengeht. Aber natürliches Reifen, Altern und Verblühen ist im Zeitalter von Big Tech eh nur noch eine nostalgische Marotte. Und runde Körper sind exzentrisch, komisch, eine anmassende, masslose Ausnahme wie Lena Dunham mit ihrer Netflix-Serie «Too Much», der Titel sagt schon alles.
Die anderen, der Mainstream, die meisten Teilnehmerinnen amerikanischer Reality-TV-Shows etwa, wie sie auch auf unseren Streamern so beliebt sind, gleichen einer schockgefrorenen Horde von Barbies. Oder Frauen, die für Trump arbeiten. Oder Frauen, die mit Trump verwandt sind. Oder Frauen, die Männer wie Jeff Bezos heiraten. Frauen mit Einfluss. Frauen unter dem Einfluss von.
Die Trump-Elite ist ganz direkt mit den aktuellen Schönheitstrends verbunden. Denn wer erst einmal im eingefallenen Tief des Ozempic-Face gelandet ist, kann direkt in die Verwandlung zum sogenannten «Mar-a-Lago-Face», getauft nach Trumps imperialem Wohnsitz in Palm Beach, investieren. Der Guardian beschreibt das entsprechende Resultat so: «Bei Frauen zeichnet sich dieser Look durch riesige Lippen aus, die aussehen, als könnten sie ein kleines Kind verschlingen, sowie durch starre Gesichtsausdrücke und Wangen, die so prall sind, dass man darunter eine Rennmaus verstecken könnte.» Es ist wie der Kardashian-Look, nur schlimmer.
Ebenfalls wichtig: eine schmale kleine Nase, grosse, mandelförmige Augen, ein nach oben verschobener Haaransatz und gebleachte Zähne. Es geht darum, jene eine Frau zu imitieren, von der Trump einst sagte, wenn sie nicht seine Tochter wäre, würde er sie daten: Das Gesicht von Ivanka Trump liefert die Schablone für das Mar-a-Lago-Face – und ein bisschen Melania ist darin auch noch zu erkennen. Die Gesichter signalisieren schon allein mit ihrem Dasein eine Anschmiegsamkeit an die Macht. Den unbedingten Willen, ihr zu gefallen. Sich für sie auch physisch zu verbiegen und zu verformen. Im Film würde man dies «Body Horror» nennen.
Das gefällt Trump. Auch in Sachen Herren hat er für seinen Hofstaat ein klares Schönheitsideal, neben starren, glatten Gesichtern ist ihm da eine starke Kieferpartie wichtig. Es sind Herrenmenschen-Fantasien. Am eifrigsten hat sie Kristi Noem, die Ministerin für Innere Sicherheit, befolgt – ihr aktuelles Gesicht verdankt sich mehreren Umbauphasen.
Das Schöne und zutiefst Unschuldige am kleinen Luxus des Lippenstifts von früher war, dass es sich zwar um einen transformativen, aber auch um einen flüchtigen Prozess handelte. Um ein bisschen Farbe, das sich unschwer wegwischen oder wegküssen liess. Und das man immer wieder auftragen konnte. Und sich damit immer wieder ein wenig besser fühlte. Er machte ein Gesicht nicht jünger und nicht voller, aber schöner. Und war in jedem Alter angebracht. Und jedes Alter zeichnete die Gesichter der Menschen mit seiner ihm eigenen Schrift. Natürlich gilt dies auch heute noch. Doch im Lichte der aktuellen Entwicklungen scheinen das hoffnungslos nostalgische Gedanken zu sein.