Sie nennt ihn zärtlich «Ladybug». Marienkäferchen. Sie ist seine Chefin. Und sie ist Sandra Bullock. Das Marienkäferchen ist Brad Pitt. Hatten wir die beiden nicht eben schon zusammen in einem Film? Genau! In «The Lost City»! Da spielte Pitt den Helden, der aus dem Dschungel kommt, um eine Bestsellerautorin (Bullock) und deren Buch-Cover-Model (Channing Tatum) zu retten und dabei selbst nach kürzester Zeit draufzugehen. Ein irrsinnig doofer, irrsinnig lustiger Film.
Doch jetzt befinden wir uns in «Bullet Train», dem grossen Action-Spass im August. Und jetzt schickt Bullock ihren Ladybug auf tödliche Mission. Was diesem widerstrebt, denn er kommt gerade aus mehreren Therapien, trägt Normcore-Bequemkleidung und will nur noch den inneren und äusseren Weltfrieden, aber sicher keinen Killerauftrag in einem japanischen Hochgeschwindigkeitszug.
«Bullet Train» ist ein Freundschaftsfilm. Nicht nur von Pitt und Bullock, sondern vor allem von Brad Pitt und Regisseur David Leitch. Denn Leitch steckte schon mehrfach in der Haut von Pitt. Als Stuntman. In «Fight Club». In «Mr. & Mrs. Smith». Da machte Leitch gut und gerne Pitts halben Job. Und dass Pitt in «Once Upon a Time... In Hollywood» das Stuntdouble von DiCaprio spielte, darf ruhig als kleine Liebeserklärung von Pitt an Leitch gelesen werden.
2012 wurde Leitch 37 und beendete seine Stuntkarriere in «The Bourne Legacy». Seither spielt er ab und zu Rollen mit richtigen Dialogen, arbeitet als Stuntchoreograf und führt Regie. Er drehte «John Wick», mit Keanu Reeves, den er in «Matrix» doubelte, «Atomic Blonde» und «Deadpool 2» und übernahm vor zwei Jahren die Regie für «Bullet Train» von Antoine Fuqua. Die grosse Frage war: Wie dreht man die Verfilmung eines japanischen Actionromans (von Kōtarō Isaka) unter den einschränkenden Voraussetzungen der Pandemie?
Eingeschränkt natürlich. Gearbeitet wurde in TV-Studios in Culver City, die wegen der Pandemie nicht genutzt werden konnten, vorwiegend in zwei nachgebauten Zugwaggons, deren Innenleben immerzu umdekoriert wurde. Vor den Zugfenstern hingen riesige LED-Screens, auf denen die vor Ort in Japan gefilmten Landschaften zwischen Tokyo und Kyoto vorbeizogen. Und inmitten des absoluten Stillstands entstand die Illusion einer absoluten Raserei in einem kilometerlangen Zug.
Sieben Killer werden sich im Lauf des Films im Zug einfinden. Sieben schwarze Tupfen hat laut der japanischen Mythologie ein Marienkäferchen, mit jedem nimmt es eine der sieben Todsünden der Menschheit auf sich. Marienkäferchen haben Pech, damit andere Glück haben. Das gilt auch für Ladybug.
Und so beginnt ein angenehm komplex verschachteltes, grelles, groteskes Drama, in dessen Lauf unzählige Vergehen gesühnt werden müssen, die ihren Ursprung in immer anderen Weltgegenden (Japan zählt vorwiegend als knallbunte Kulisse) nehmen. Brad Pitt ist ganz bei sich. Der entspannte, ironische, geschmeidige Anführer eines blutrünstigen Ensembles. Und sein Gesicht ist die mit Abstand attraktivste männliche Knautschzone der Gegenwart.
Gekämpft wird mit jeglicher Brutalität, mit elegant geschwungenen Samurai-Schwertern und archaischem Schlangengift (quasi mit snakes on a train). Alle sind gegen alle, und natürlich stecken dahinter ein Plan und ein Russe (Michael Shannon). Familien sind auch nur eine Form der Bandenbildung und umgekehrt, und immer kommen sich das Dynastische und das Emotionale in die Quere. Das war auch bei Shakespeare nicht anders.
Nicht nur Ladybug ist therapiebedürftig. Auch der Vaterkomplex des manipulationsmächtigen Mangamädchens Prince (Joey King) müsste dringend repariert werden. Und Killer Lemon (Brian Tyree Henry), der all seine Menschenkenntnis aus «Thomas, die kleine Lokomotive» bezieht, hat einen gröberen, wenn auch sehr liebenswerten Dachschaden. Und dann ist da noch Lemons «Zwilling», der fabelhaft britisch gekleidete und ebenso hochnäsige Tangerine (Aaron Taylor-Johnson). «Niemand spielte in diesem Film sich selbst, bloss Aaron», sagte Brian Tyree Henry in einem Interview dazu.
Das Ende ist eine genauso unwahrscheinliche Wunschbefriedigung wie in den Romanen von Sandra Bullocks Bestsellerautorin aus «The Lost City». Apropos: Im Bullet Train sitzt logischerweise auch der Dritte aus «The Lost City». Höchst kenntnisreich kommentiert da nämlich Channing Tatum als Passagier die körperlichen Vorzüge mitreisender Männer. Ein nices Detail. Nur eins von einer gefühlten Milliarde.
«Bullet Train» eröffnet am 3. August auf der Piazza Grande das 75. Filmfestival Locarno und ist ab dem 4. August im Kino zu sehen.