«Und dann war die Toilette verstopft.» Mit diesem Satz beschrieb meine Arbeitgeberin die Abtreibung einer meiner Vorgängerinnen. Ich war 20 und Au Pair in London und die Vorgängerin lag schon ein paar Jahre zurück, sie war eine Deutsche gewesen, «die köstliche Schwarzwälder Kirschtorte machte», und an der offenbar auch so einiges anderes köstlich gewesen war.
Kurz: Ihr war passiert, was jungen Menschen in der Fremde nicht selten passiert, sie hatte sich verliebt, sie hatte Sex, sie war plötzlich schwanger, und weil letzteres keine Option war, setzte sie sich mit einer Stricknadel auf die Toilette, die später meine war, stach zu und trieb ab. Zum Glück ohne gesundheitliche Folgen.
Abtreibung ist eines der vielen unangenehmen Unterthemen, die zum Oberthema «Kind» gehören. Jedenfalls in jenem Stadium, das die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch zusammen mit Andrea Büchler, einer Zürcher Professorin für Privatrecht und Rechtsvergleichung, im Buch «Kinder wollen – über Autonomie und Verantwortung» betrachtet. Nämlich das Stadium des Kinderwollens und des Kindwerdens im Mutterleib und was bereits da für das angebliche Kindeswohl unternommen wird.
Ein vorgeburtliches Stadium also. Von der Absicht zum Zellhaufen zum Embryo zum Fötus. Von der Vorstellung zum Wunschkind. Aus einem Koitus entstanden oder in der Petrischale gezüchtet. Diagnostiziert, aussortiert, implantiert. Und immer alles in der Hoffnung, dass das Schicksal, dieser Begriff, unter dem die Unberechenbarkeit einer Existenz zusammengefasst wird, ausschaltbar sei. Dass man für sein Kind und gewiss auch für sich, das Optimum garantieren könne. Ein gesundes, glückliches, begabtes, schönes Kind, wenn möglich. Eines, das fehlerfrei aus dem Mutterleib geliefert wird und keinerlei Reparaturen bedarf.
Ein vor-bestimmtes Kind. Und das, so die Autorinnen, bleibt immer Wunschdenken und damit Fiktion. Denn selbst wenn es gelungen ist, dem Kind alle möglichen Sicherheiten und Vorteile mit auf den Weg zu geben, selbst wenn man es ganz und gar einer «liberalen Eugenik» unterworfen, Krankheiten vermieden, Geschlecht und Augenfarbe gewählt und das Sperma eines Nobelpreisträgers verwendet hat, so wird das Kind am Ende höchst wahrscheinlich machen, was es will. Dem Menschen wohnt ein eigenwilliger Trieb zur Autonomie inne.
Barbara Bleischs letztes Buch stellte die Frage, ob Kinder ihren Eltern etwas schuldig sind. Die Antwort lautete: nein. Jetzt fragt sie gemeinsam mit Büchler, ob Eltern ihre Kinder formen können oder sollen, und die Antwort lautet auch hier: nein. Aber natürlich versuchen sie es. Und die Industrie, die aus diesem Wunsch erwachsen ist, ist monströs. Sie beginnt quasi mit der Pille und endet bei der «Genschere», mit der der chinesische Biophysiker He Jiankui Ende 2018 das Erbgut von Zwillingen veränderte, indem er eine Sequenz aus der Keimbahn schnitt. Ein Eingriff, der Auswirkungen auf ganze Generationen haben kann. Und das ist dann wirklich Frankensteinsch. Eine Schöpferfantasie wird Wirklichkeit.
Dazwischen gibt es eine Milliarde Möglichkeiten und keine Wahl, die Eltern treffen können, ist ganz richtig oder ganz falsch. Wann ist eine Frau zum Beispiel zu alt, um Kinder zu kriegen? Über 50-Jährige sind heute schliesslich körperlich in einer besseren Verfassung als viele 25-Jährige vor hundert Jahren. Und können «alte» Eltern ihren Kindern nicht mehr Sicherheit, Gelassenheit und Souveränität vermitteln als junge, die vielleicht überfordert sind? Oder treibt man das Kind damit nicht in die mögliche Lage, schon als Teenager Altenpflege übernehmen zu müssen?
Diskriminiert man etwa Menschen mit Behinderung, indem man einen «invaliden» Embryo abtreibt? Traut man dem Kind, das daraus entstehen könnte, etwa nicht zu, ein glücklicher Mensch zu werden? Oder traut man sich selbst nicht zu, dieser Aufgabe als Eltern gewachsen zu sein? Oder tut man ganz einfach das Bestmögliche? Wann sind Modifikationen am Genom therapeutische oder präventive Eingriffe und wann handelt es sich bloss um Optimierungswahn?
Ab wann ist das Ding in der Gebärmutter eigentlich schon ein kleiner Mensch mit entsprechenden Rechten? Die einen sagen, ab dem Moment der Empfängnis. Die Schweiz sagt, nach der 12. Schwangerschaftswoche. Island nach der 22. Nach 22 Wochen ist mehr als die Hälfte einer Schwangerschaft um. Bis dahin darf man in Island abtreiben. Gesetz ist Gesetz. Anderswo wird alles getan, um Frauen, die abtreiben, zu kriminalisieren. Sie als Mörderinnen abzustempeln. Konservative Kräfte träumen von der Todesstrafe für Abtreibung.
Das vielleicht Frustrierendste an diesem Buch, das in einer klugen Auffächerung aller Pros und Contras zeigt, dass es wirklich keine eindeutigen Antworten gibt, ist, wie sich die Industrie um die Kindwerdung fast integral auf dem Körper der Frau austobt. Seien es die rechtlich-politischen Auslegungen des Themas Abtreibung, sei es die Verdingung wirtschaftlich bedürftiger Frauen als Leihmütter, also der Verkauf ihrer Gebärkapazität. Sei es die ganz banale Normalität.
Dem weiblichen Körper werden Eizellen entnommen oder künstlich befruchtet, ganze Gebärmütter werden transplantiert, er wird durchleuchtet, durchstochen, unterliegt vor der Geburt drastischen Veränderungen, wird bei der Geburt aufgerissen oder -geschnitten und ist immerzu dem Atomkraftwerk der hormonellen Veränderung und Einflussnahme ausgesetzt. Und wenn er das nicht will, dann unterliegt er der Pille, dieser Fernsteuerung des Hormonhaushalts. Es ist die Natur und was der Mensch daraus gemacht hat. Gerecht ist das nicht. Aber rechtens.
Wer vor diesem Buch einen Kinderwunsch hegte und ihn danach nicht verloren hat – wow, Bewunderung pur und total und für immer, denn ihr begebt euch alle auf den härtesten ethischen, moralischen, medizinisch-technologischen und juristischen Horrortrip, der vorstellbar ist.
360'000 Kinder kommen täglich zur Welt. Die wenigsten werden reich und erfolgreich, viele von ihnen werden irgendwas, und es ist wie in diesem einen Lied aus der «Zäller Wiehnacht», die nun jahreszeitlich gesehen überhaupt nicht passt, aber thematisch schon. Denn wie heisst es da zu einer der traurigsten und sorgenbeladensten Melodien der Mundartsonggeschichte?
Kei Mueter weiss, was ihrem Chind wird gscheh,
kei Mueter chan i d‘ Zuekunft gseh.
Ob ihres Chind mues liide,
oder ob mer’s gar wird beniide?
Kei Mueter weiss, was ihrem Chind wird gscheh.
Generell würden wir gut daran tun, wenn wir das mit der Perfektion etwas legerer sehen würden. Da wäre eine Menge Druck weg. Mit weniger Druck lebt es sich leichter und beschwingter. Das würde sich auch positiv auf unsere Kinder auswirken.
Leider - so befürchte ich - befinden wir uns inzwischen auf einem Weg, auf dem wir (fast) nicht mehr umkehren können.
Am Ende läuft alles wieder auf die Autonomie des einzelnen Lebens hinaus... gleichgültig, auf welche Weise es entstanden ist.