Knapp zwei Stunden lang sitzen Mutter und Sohn nebeneinander auf einer Bank am Waldrand. Sie reden nicht. Sie kennen sich nicht. Dann beginnt die 24-jährige St. Galler Näherin Frieda Keller mit Händen und Schuhen ein Loch zu graben, legt dem fünfjährigen Ernstli eine Paketschnur um den Hals, erdrosselt ihn und verscharrt die Leiche. Es ist der 2. Mai 1904.
Die darauffolgenden Wochen sind warm und trocken, doch dann setzt Regen ein und schwemmt die dünne Erdschicht über Ernstlis Leiche weg. Zwei Spaziergänger finden ihn am 7. Juni. Noch am gleichen Tag gesteht Frieda freiwillig ihre Schuld, und ein aufsehenerregender Gerichtsprozess nimmt in St. Gallen seinen Lauf.
Zuerst wird die Kindsmörderin zum Tod verurteilt. Dann wieder begnadigt und neu zu lebenslangem Zuchthaus samt Einzelhaft und Schweigegebot verurteilt. Nach 15 Jahren wird sie entlassen, ist physisch und psychisch gebrochen, ihre letzten Jahre verbringt sie in der Psychiatrie.
Der Fall Frieda Keller ist einer der bekannteren und gut dokumentierten Schweizer Gerichstfälle, denn was hinter dem Kindsmord zutage trat, war eine Gesellschaftsordnung, in der die Ungerechtigkeiten ineinander griffen wie ungeheuer effiziente Zahnräder.
Ernstli ist die Frucht einer Vergewaltigung. Mehrfach ist Frieda von ihrem alten Chef, einem Wirt in Bischofszell, missbraucht worden. Er ist verheiratet und verheiratete Männer werden damals vom Gesetz als besonders schützenswert betrachtet, Frieda hat keine Chance. Dafür die Schande. Ihr Vater verstösst sie. Mit Hilfe ihrer neuen Chefin, einer Schneiderin aus St. Gallen, bringt sie das Kind in der Kinderbewahrungsanstalt Tempelacker unter.
Als Ernstli fünf Jahre alt ist, wird er vom Kinderheim vor die Tür gesetzt, so verlangen es die Statuten. Frieda versucht, einen Vater für das uneheliche Kind zu finden, erfolglos, sie weiss, dass sie es alleine nicht ernähren kann und will es auch nicht der gesellschaftlichen Stigmatisierung aussetzen. Sie tötet es am Tag seiner Entlassung. Die Reaktionen auf ihre Tat sind gespalten: Die einen fordern Friedas Tod, mehrere Schweizer Frauenverbände fordern Gerechtigkeit für die junge Frau, die geschändet und mit der Schande alleine gelassen wurde.
Die Schweizer Schriftstellerin Michèle Minelli hat über Frieda Keller einen Roman («Die Verlorene») geschrieben, und die süddeutsche Regisseurin Maria Brendel, die in Zürich Film studierte und mit ihrem Kurzfilm «Ala Kachuu» über eine kirgisische Zwangsheirat 2022 für einen Oscar nominiert war, hat Minellis Buch nun verfilmt.
«Friedas Fall» ist eine verstörende und dramaturgisch ungemein geschickt gebaute Tragödie geworden, denn aus dem Mordfall heraus entwickelt sich ein Courtroom-Drama, in dem wiederum zwei Männer (der Staatsanwalt und Friedas Anwalt) in brutal manipulierender Manier über Friedas (Julia Buchmann hat dafür mindestens eine Nomination für einen Schweizer Filmpreis verdient) Schicksal entscheiden. Ihr Anwalt (Max Simonischek) macht aus ihrer materiellen und gesellschaftlichen Not wider ihren Willen einen Fall von geistiger Unzurechnungsfähigkeit und von «schändlichem Erbgut».
Auch das Recht bleibt in diesem Film ungerecht. Es gibt kein gutes Leben in der falschen Zeit. Einzig die Frau (Rachel Braunschweig) des Staatsanwalts, die im Gegensatz zur analytisch ohnmächtigen Frieda die ganze Maschinerie eines exemplarischen Elends durchschaut, ist eine strenge Lichtgestalt. Für Frieda, die nichts kennt ausser ihrem Handwerk, der Schneiderei, wird die Welt im Zweifelsfall von Nähten zusammengehalten. Im Gefängnis näht sie weiter, es ist die einzige Art der therapeutischen Kompensation, die sie kennt.
Man schämt sich ja in der Schweiz schon dafür, dass erst 1971 das Frauenstimmrecht eingeführt wurde, doch die Geschlechterpolitik um 1900 ist noch eine weit schwärzere Hölle, da ist «Friedas Fall» bis zur Schmerzgrenze genau. Überhaupt ist der Film äusserst faktentreu, nur kleine narrative Scharniere sind etwas anders eingestellt, um die Geschichte fürs Kino runder zu machen.
Umso mehr irritiert es, wenn in der Protestszene der Frauenvereine plötzlich ein Plakat mit den Worten «Frau – Leben – Freiheit» hochgehalten wird. Wir kennen den Slogan aus den Protesten nach dem Tod der Iranerin Masha Amini, ihn jetzt ins historische St. Gallen zu verpflanzen ist ein frivoler Joke, den der Film nicht nötig hätte.
Doch sonst ist das ein enorm kompetent und smooth gemachter Genre-Film mit einem wirklich tollen Cast. Und wenn Frieda davon zu träumen beginnt, wie sie mit dem Ernstli liebevoll auf einer Maienwiese herumtollen könnte, aber dabei in einer rattigen Zelle sitzt und hofft, dass die Nager sie nachts in Ruhe lassen, ist das noch einmal extra beelendend.
«Friedas Fall» läuft jetzt im Kino.
Schade, dass viele etwas als selbstverständlich anschauen, ohne sich bewusst zu sein, wie z.B. Frauen für ihre Rechte kämpfen mussten. Und ja, Männer sind nicht besser als Frauen und umgekehrt auch nicht.
Wie verzweifelt musste die junge Mutter sein, um diesen Mord begehen zu können? Wie selbstherrlich war die Justiz? Es ist so grausam.
Ich frage mich nur, warum ich mir das auch noch im Kino ansehen soll.
Momentan ist die Welt schon schwer ertragbar mit all dem Mist der gerade abgeht. Ich benötige definitiv eine positivere Unterhaltung in meiner Freizeit.