Dag Johan Haugerud ist der Mann der Stunde im Arthouse-Kino. Gleich drei seiner Filme laufen binnen eines Monats in Schweizer Kinos an, betitelt mit «Sex», «Love» und «Dreams». Zusammen bilden sie die «Oslo Stories»: motivisch verbundene Geschichten über Menschen in der Grossstadt, auf der Suche nach Glück, Sicherheit, Selbstverwirklichung und Sex. Eine Trilogie voller Gespräche über Träume und Begehren.
Zwei befreundete, verheiratete Kaminkehrer hinterfragen ihre sexuelle Identität nach einem doppelten Geständnis: Der eine hatte zum ersten Mal Sex mit einem Mann, versteht sich aber keineswegs als homosexuell; der andere sieht sich im Traum als Frau – «Sex». Ein junges Mädchen schreibt ein Buch über die Beziehung mit ihrer Lehrerin – «Dreams». Und eine Pendlerfähre wird zum Begegnungsort für eine Ärztin und einen schwulen Pfleger auf dem Weg zur Erkenntnis, dass Liebe und Sex in erster Linie eine Wahl sind – «Love».
Für Haugerud, den wir anlässlich eines Besuchs in Zürich treffen, war von Anfang an klar, dass er eine Trilogie drehen wollte. Im Zuge der Aufbruchstimmung nach der Pandemie habe er endlich ein Thema komplexer behandeln wollen. «Und zugleich wollte ich sehen, wie es meine Arbeit beeinflusst, wenn ich innerhalb weniger Monate drei Filme mit einer Crew drehe. Wird es leichter, werden wir uns herausfordern? Oder werden wir faul?», sagt der norwegische Regisseur lachend.
Alle «Oslo Stories» zeigen amouröse Grenzüberschreitungen, allerdings äusserst gelassen, sanft und mit Humor. Dag Johan Haugerud unterwirft sich an keiner Stelle dem Sensationalismus, der sofort einsetzt, wenn man vom Verhältnis einer Schülerin zu ihrer Lehrerin hört. Das Wort Missbrauch läge nahe, wie auch die Mutter des Mädchens als erste Reaktion auf deren Buch feststellt. Schliesslich ermutigt sie ihre Tochter doch zur Veröffentlichung. «Ich finde es spannender, wenn das Publikum eine Sache womöglich zunächst als falsch ansieht, aber gleichzeitig spürt: Das muss nicht zwangsläufig nur falsch sein. Es ist menschlich viel komplizierter als ein Gesetz, das natürlich streng sein muss.»
Viele Beziehungen in den drei Filmen sind, wie ihr Regisseur, queer: «Ich finde es spannend, dass wir andere Regeln, eine andere Moral ansetzen, wenn es um gleichgeschlechtliche Beziehungen geht. Wäre der Patient in ‹Liebe› eine Frau, zu der sich der Pfleger legt, würde man das nicht akzeptieren. Oder wenn der Lehrer ein Mann wäre, fänden wir es wirklich unheimlich.»
Eine Art positiver Diskriminierung also? Ja, und die könne sehr gefährlich sein und echten Missbrauch verschleiern, sagt Haugerud. Als solcher seien seine Geschichten jedoch nicht angelegt.
Hatte er in Zeiten von Einverständniserklärungen beim Sex jemals Angst, mit seiner Offenheit missverstanden zu werden? Nein, nur selten habe er darüber nachgedacht, was als zu kontrovers hätte aufgefasst werden können, antwortet Haugerud. Doch die Zuschauer hätten die Geschichten als romantische Begegnung aufgefasst. Hier hat das Kino offensichtlich nicht nur jemanden gefunden, der seine Figuren ernst und erwachsen gestaltet, sondern auch ein Publikum, das dementsprechend reagiert.
Und an der Preisverleihung des Goldenen Bären, den er an der diesjährigen Berlinale für «Dreams» erhielt, verblüffte der Regisseur mit einer schlichten, bescheidenen Dankesrede: Man möge doch mehr lesen und schreiben, das fördere den Geist.
Haugerud ist selbst Autor mehrerer Romane, hat lange in einer Osloer Musikbibliothek gearbeitet. Wenn es im Film heisst: «Ich lese, um meinen Platz zu finden und bei mir selbst anzukommen», ist das mindestens ein Statement über ihn selbst, der sich permanent mit Literatur umgibt.
Omnipräsent ist in unserer Welt auch Sex – und zugleich scheint die Gesellschaft (und das Kino) stellenweise prüder geworden zu sein als noch vor ein paar Jahrzehnten. Ein paradoxer Zustand, der auch Haugerud auffällt: «Wir sollten, gerade in Skandinavien, eigentlich sehr offen sein. Doch Sexualität ist so kommerzialisiert worden durch Bilder, Werbung, Podcasts, die alles verstellen, was man wirklich persönlich benötigt.»
Sprechen wir also zu wenig oder zu verschlossen über Sex? «Ich glaube, die meisten Menschen führen keine ausgesprochen intimen Gespräche über ihre Sexualität. Sie denken nur, sie würden es tun», findet Haugerud. Falls seine Filme eine Möglichkeit eröffneten, das Thema befreiter anzugehen, schätzte er sich sehr glücklich.
Vor der Oslo-Trilogie war der heute 60-Jährige vor allem Cineasten durch seinen Spielfilm «Barn» (2019) bekannt. Der grosse Erfolg der drei Filme hebt ihn spät auf die internationale Landkarte.Ein Vor- oder ein Nachteil, im Alter berühmt zu werden? Der Norweger nimmt es gelassen, wie anscheinend so vieles: Er sei genau an dem Punkt, an dem er eben hingekommen sei. Und er bereue nichts. Lächelnd schiebt er hinterher: «Aber natürlich beneide ich die Jugend!»
«Love» und «Dreams» laufen bereits im Kino, «Sex» läuft ab dem 22. Mai.
Ich hintersinne mich und finde keinen Sinn darin - ist es also Unsinn?