Netflix ist der Ort, wo jeder Serienmörder seine True-Crime-Serie erhält. Und wo alle, die sich ungerecht behandelt fühlen, Dokfilme über ihre wahre Geschichte drehen dürfen. Netflix ist da von einer ganz grossen Geber-Mentalität beseelt. Beziehungsweise von einem unersättlichen Voyeurismus, der sich nur allzu erfolgreich aufs Publikum überträgt. Abermillionen wollen wissen, wie schlecht ein Mensch sein kann. Oder wie schlecht es einem Menschen gehen kann.
Pamela Anderson geht es zum Glück nicht schlecht. Oder nicht mehr. Sie hat den Dokfilm «Pamela: A Love Story» (Regie Ryan White) zu einem Zeitpunkt gemacht, als gerade vieles gut ist: Ihre Karriere nimmt am Broadway einen neuen Anlauf, ihre Eltern sind immer noch zusammen und glücklicher denn je, ihre beiden Söhne Brandon und Dylan lieben die Mutter wie verrückt, Ehemann Nummer fünf, ein Bauunternehmer, hat ihr ein Traumhaus an einem Strand ihrer Kindheitsinsel Vancouver Island gebaut, und über vieles in ihrem Leben kann sie sich nur so ausschütten vor Lachen.
Unnötig zu sagen, dass sie mit Ehemann Nummer fünf, ihrer Pandemie-Ehe, nicht mehr zusammen ist. In einem Schaumbad bei Kerzenschein schwört sie sich, nie, nie, nie mehr zu heiraten. Einerseits. Andererseits macht sie es einfach verflucht gerne. Weil sie eine Jüngerin der Liebe ist. Sie liebt die Liebe über alles und jede mögliche romantische Verklärungsmöglichkeit davon. Doch nur einmal gelang es der Liebe, selbst Pamelas übertriebene Vorstellungen davon zu übertreffen. Genau das wurde ihr zum Verhängnis.
Doch zuerst nimmt sie uns mit in eine Kindheit zwischen behütet und gefährdet, die Eltern – eine Kellnerin und ein spielsüchtiger Kaminfeger – streiten sich oft und heftig, doch sie versöhnen sich auch wieder und lieben sich trotz allem sehr. Mit zwanzig wagt sich Pamela zum ersten Mal von Vancouver Island weg aufs Festland, wird dort bald als Werbegesicht entdeckt, vom «Playboy» hofiert und nach L.A. geflogen.
Sie erlebt Hugh Hefner und seine Entourage als grosses Märchen, sie liebt das Erotik-Shooting, es habe einfach nur Freude gemacht und ihr die Macht über ihre Sexualität zurückgegeben, sagt sie heute. Als Kind war sie von einer älteren Babysitterin missbraucht worden.
Die Rettungsschwimmer-Serie «Baywatch» ruft an, und wenn man ihr glauben kann, beginnt damit der grösste Spassjob der TV-Geschichte: Strandleben de luxe und alle Männer sind in sie verliebt. Nicht nur in Amerika. «Baywatch» wird schnell zur populärsten Serie der frühen 90er, ist die erste amerikanische TV-Produktion, die auch in China läuft, und wenn Pamela heute in ihren Tagebüchern blättert, staunt sie selbst, was für eine Chaoswirtschaft sie mit ihren Liebhabern damals hatte. Es waren viele. Manchmal auch zwei an einem Tag.
Und dann kam Motley-Crue-Drummer Tommy Lee. Lernte sie an Silvester 1994 in L.A. kennen und folgte ihr nach Cancun zu einem Shooting. Dort verliebten sie sich mithilfe von Champagner und Ecstasy. Nach vier Tagen heirateten sie am Strand. «Ich war dieser romantische kleine Hippie», sagt sie. Er ist der erste Mann, der nur sie liebt und nur sie will, sie ist diese Geradlinigkeit weder von den Männern noch von sich selbst gewohnt.
Alles passt, der Sex, die enorme Exzentrik der beiden, die Romantik, die sich in den klischiertesten Inszenierungen Luft macht, nichts darf fehlen, auch die Gondelfahrt in Venedig gehört dazu. Es ist ein süsses, fast schon kindliches Glück, das die beiden in ihren vielen, von Pamela bis heute gehüteten Homevideos verströmen, auch Pamelas Söhne sitzen völlig gerührt vor den Szenen einer Ehe.
Die beiden Showbizleute Pam und Tommy leben filmreif, eine schönere Romantic Comedy gibt's nicht. Der Soundtrack dazu sind Pamelas Tagebucheinträge, die sie selbst mit Zuckerwatten-Stimme vorträgt. Es ist, als ob eine ganze Herde von Regenbogeneinhörnern seufzen würde. Diese Frau will den Kitsch mit aller Macht.
Leider lassen die beiden die Kamera auch beim Sex laufen. Der Rest ist Internetgeschichte: Der Safe, in dem die anrüchigen Videotapes lagern, wird während Bauarbeiten geraubt, die deutlichsten Szenen werden auf einem Tape zusammengeschnitten und übers Internet verkauft, Pam und Tommy gehen gerichtlich dagegen vor, ohne Erfolg, das Gericht beschliesst, dass eine Frau, die sich schon für den «Playboy» ausgezogen hat, kein Recht auf den Schutz ihrer Privatsphäre habe. Pamela Anderson ist ein öffentlich verfügbarer Körper. Für Tommys Image ist das Ganze potenzsteigernd, für sie ist es eine Katastrophe, sie verkommt «zur Karikatur».
1998 ruft sie die Polizei, Tommy hat geschlagen, während sie ihr Baby im Arm hielt, er kommt für ein halbes Jahr ins Gefängnis, sie lassen sich scheiden und ziehen die beiden Söhne danach halbwegs einvernehmlich gemeinsam auf. Dylan und Brandon sind überzeugt, dass es keine durchgeknallteren Menschen gibt als ihre Eltern. Und keine selbstlosere Frau als ihre Mutter. Einmal Rettungsschwimmerin, immer Rettungsschwimmerin.
Pamela Anderson entschliesst sich zur Flucht nach vorn. Sie hat keine Filmkarriere mehr und sie hat nur eines zu verkaufen: ihre Haut. Damit will sie den einzigen Lebewesen helfen, denen sie vertraut, den Tieren. Sie lässt sich für die Tierschutzorganisation PETA nackt ablichten. Doch hauptberuflich ist sie Mutter und Kurzzeit-Ehefrau, sie heiratet den Musiker Kid Rock, weil der «gut zu den Jungs» ist, lieben tut sie ihn nicht. Sie heiratet den Schauspieler Rick Salomon, verlässt ihn aber, als er seine Crack-Pfeifen im Weihnachtsbaum versteckt. Dabei möchte sie ihren Kindern doch so gerne einfach nur eine heile Familie bieten.
Einzig mit Julian Assange scheint sie nur Freundschaftliches verbunden zu haben. Vor der Pandemie besuchte sie ihn einige Male in London in der ecuadorianischen Botschaft, sie redeten ein paar Stunden, sie verehrte ihn, weil er für sie sein Leben ganz in den Dienst von Wahrheit und Aufklärung stellt, er hielt ihr Vorträge darüber, dass das Internet trotz des geleakten Tapes nicht nur schlecht sei.
Tommy Lee bleibt ihre Lebensliebe, zu diesem Schluss kommt sie immer wieder, auch heute: «Ich bin lieber allein, als nicht mit dem Vater meiner Kinder zusammen. Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, mit Tommy zu sein.» Es ist herzzerreissend.
Die Hulu-Serie «Pam & Tommy» hat sie sich noch nicht angeschaut, sie und ihre Söhne hassen die Idee, dass dem Mann, der Safe und Tapes stahl und ihr Leben zur Hölle machte, darin eine Berechtigung für seine Tat zugestanden wird. Abgesehen davon bereut sie nichts und trägt niemandem etwas nach: «Ich bin kein Opfer. Ich habe mich in verrückte Situationen gebracht und sie überlebt.»
Sie erzählt ihre bewegte Geschichte ganz ohne Gram. Statt mit Tränen dekoriert sie das Reden über ihr Leben lieber mit viel ansteckendem Gelächter. Das sollten sich Harry und Meghan mal merken.
«Pamela: A Love Story» läuft jetzt auf Netflix.
Sie war schon ein absolutes Sexsymbol - nur den Mensch hinter den Boobs und der blonden Mähe interessierte nicht. Zum Glück endete es nicht wie bei Marilyn Monroe.