Natürlich wird der Bub immer als letzter in die Sportmannschaften gewählt. Er ist der Underdog der Schulhöfe. Und dann geschieht auch noch, wovor er sich am meisten fürchtet: Seine Eltern lassen sich scheiden. Eins seiner Geschwister kommt zum Vater, eins zu den Grosseltern, er zur Mutter. Sie arbeitet in einem Comedy-Club. Er darf die Komiker des Clubs für sein Schulradio interviewen. Zum Beispiel den jungen Jerry Seinfeld.
Und so findet der jüdische Bub aus dem New Yorker Stadtteil Flushing das grosse Ersatzfamilienglück in der Komik. Sein Name: Judd Apatow. Sein Lieblingsfilm: «Brokeback Mountain». Ein Film ganz ohne Komik, aber mit zärtlichen Männern. In seinen Zwanzigern stellt er sich selbst auf Comedy-Bühnen und lebt in einer WG mit Adam Sandler, und bevor die beiden einschlafen, erzählen sie sich eine Gutenachtgeschichte und halten einander die Hand. Es ist wie eine Urszene jenes neuen Filmgenres, das Judd Apatow erfinden wird. Eine Urszene der Bromance.
Filme, über liebenswerte Loser, deren grösstes Gut die Freundschaft ist, denn Freundschaft ist ihr Rettungsanker in einer loserfeindlichen Leistungsgesellschaft.
Weshalb auch alle immer ein wenig depressiv sind. Seien es diverse Teens in «Freaks and Geeks» (da schrieb Apatow mehrere Folgen und führte bei einigen Regie). Oder Menschen um die 40 («The 40 Year Old Virgin», «This Is 40»), die entweder niemanden oder einander und ihr Leben latent satt haben.
Denn das sind die beiden grossen Problemzonen der Mann- und Menschheitsgeschichte für Apatow: Die Phase, in der klar wird, dass man kein Kind mehr sein darf, aber immer noch am liebsten kindlich und kindisch tut, und die Phase, in der man auch dies nicht mehr sein sollte, aber trotzdem darauf beharrt. Hauptsache, man findet eine Entschuldigung für die eigene Verantwortlichkeitsallergie. Beziehungsweise lernt in ganz kleinen Schritten, diese zu bewältigen.
«Freaks and Geeks» war um 2000 die Blaupause, mit der alles begann. Seither gab es für Apatow Männer, die nach Freunden und Vätern suchten und in denen er immer wieder sich selbst rettete. Und es gab Frauen, die er förderte und die sich egomaner und versauter benahmen als seine Männer. Apatow entdeckte Lena Dunham für die Serienwelt und schrieb und drehte mit ihr zusammen mehrere Folgen der HBO-Serie «Girls». Er produzierte den Hochzeitskrawall «Bridesmaids» und drehte Amy Schumers ersten Film «Trainwreck».
Jetzt, nach einem Ausflug ins Serielle mit «Love» für Netflix, ist er wieder zurück bei den jungen Leuten. «The King of Staten Island» ist quasi ein Apatow-Klassiker, doch im Gegensatz zu seinen vorherigen Filmen, die alle in einem Mittelklasse-Milieu spielten, kommt der aus einem Amerika von weiter unten. Von dort, wo Eltern Feuerwehrmänner und Notfallkrankenschwestern sind und Kinder keine Perspektive ausser Drogendeals und dem Überfallen von Apotheken zwecks Drogenbeschaffung haben.
Es ist eine miserable Ausgangslage für Scott (Pete Davidson, ja, der Typ, der mal ganz kurz mit Ariana Grande verlobt war), der mit 24 immer noch bei und von der Mutter lebt und dessen Vater in einem Feuerwehreinsatz ums Leben kam. Und es ist zugleich eine wunderbare Ausgangslage für den ganzen Film, denn das aussichtslos scheinende Milieu geht definitiv mehr zu Herzen als die breitgeredeten First-World-Problems aus Apatow-Filmen wie «Knocked Up» oder «This Is 40».
Es ist auch die Geschichte von Pete Davidson selbst, dessen Mutter Krankenschwester ist und dessen Vater 2001 als Feuerwehrmann bei den Rettungsarbeiten nach 9/11 ums Leben kam. Apatow und Davidson schrieben das Drehbuch gemeinsam.
Was er anpackt, macht er zum Schreien schlecht, aber mit Herzblut. Und dann verliebt sich seine Mutter. In einen Feuerwehrmann. Was für Scott an Blasphemie grenzt. Doch der Lernprozess, der bei Apatow immer irgendwann einsetzt, kommt auch hier zuverlässig in Gang. Denn natürlich macht Apatow aus seinen Trotteln Helden, keine grossen, aber rührende, deren Sozialkompetenz sich etwas knittrig, aber für alle sichtbar auseinanderfaltet.
«The King of Staten Island» ist kein Augenöffner wie damals «The 40 Year Old Virgin», der Steve Carell in die Riege der Leading Men katapultierte. Er ist auch keine Unterhaltungsbombe wie «Forgetting Sarah Marshall», zu dem Apatow das Drehbuch schrieb, und das ausserhalb der britischen Comedy-Szene zum ersten Mal Russell Brand international lancierte.
Aber es ist eine zarte, zärtliche, ungemein unzynische, ehrlich empfundene und sensible Komödie, die einem mehr als einmal Tränen in die Augen treibt. Bei allen gewohnten Kifferjokes ein feiner Film über die radikale Unmöglichkeit des Menschen, alleine in einer Gesellschaft zu überleben, die für ihn herzlich wenig Komfortzonen vorgesehen hat.
«The King of Staten Island» läuft ab dem 30. Juli im Kino.