Als Elliot Page noch ein Mädchen sein musste, war er definitiv ein Bubenmädchen. Eins, das den kanadischen Nationalsport Eishockey liebte. Das Fussball spielte und Wrestling betrieb und seine freie Zeit mit Actionfiguren verbrachte. Dessen grösste Freude es war, im Sommer Bubenbadehosen zu tragen. Nur keinen Badeanzug! Nur keinen Bikini!
Je weiblicher Elliots Körper in der Pubertät wurde, desto mehr entfernte er sich davon, desto mehr verstiess er sich selbst, es war ausserhalb seiner Kontrolle, dass sich jeder BH anfühlte, als wäre er aus Brennnesseln gemacht, dass er in jedem Kleid meinte, zu ersticken, dass er sich in allem, was ihn als Mädchen markierte, wie Falschgeld fühlte und nur noch verschwinden wollte. Damals nannte man ihn Ellen. Und Ellens Vorbild war schon seit frühster Kindheit Elliot, der kleine Junge mit dem roten Hoodie aus «E.T.», der den Extraterrestrischen in seinem Velokorb durch die Gegend fährt.
Ellen, das wird in der Autobiografie «Pageboy» schmerzhaft deutlich, war schon immer Elliot. Und damit auch eine Art E.T. Ein Wesen, das zum Leben einen anderen Planeten brauchte. Nicht den Planeten, den seine Familie und die Gesellschaft vorgesehen hatten, und nicht den Planeten Hollywood. Nicht so jedenfalls.
Auch wenn wir damals alle von Page als schwangerem Teenager in «Juno» begeistert waren (es gab dafür eine Oscarnomination als beste Hauptdarstellerin). Und von Page als Roller Girl in «Whip It». Und von Page an der Seite von Leonardo DiCaprio in «Inception». Und von Page in «X-Men». Und so weiter. Von dieser 1,55 Meter kleinen, zarten, zähen Person mit der trockenen Stimme und dem wenig weiblichen Naturell einer wachsamen, misstrauischen Springfeder. Page war kein bisschen anschmiegsam. Page war eine Erfrischung. Und dabei auch immer sonderbar ernsthaft.
Hinter der souveränen Fassade verbarg sich das Drama. Das Martyrium. Einmal lässt es Page zu, dass ihm eine Rolle zu nahe geht, dass er seine eigene Krise darin aufgehen lässt und sie zu sehr «lebt». Es ist die Rolle der Sylvia Likens in «An American Crime», einem Film, der es bei uns nur auf DVD schafft, gedreht hat Page ihn mit 19, kurz vor «Juno». «An American Crime» erzählt eine True-Crime-Geschichte, ein Verbrechen aus dem Jahr 1965.
Eine sechsfache Mutter aus Illinois nimmt zwei Mädchen zur Pflege bei sich auf und foltert mit Hilfe ihrer Kinder das ältere Mädchen zu Tode. Zwingt es, sich mit einer Colaflasche mehrfach selbst zu vergewaltigen. Sperrt es in den Keller, lässt es verprügeln, aushungern, ritzt ihm mit einer glühenden Nadel «I'm a prostitute and proud of it» in den Bauch. Lässt ihren nackten, misshandelten Körper gegen Bezahlung von anderen begaffen. Ein Film, bei dem man immerzu weinen, schreien und kotzen möchte. Und sich bang fragt, wie ein so junger Mensch wie Page das wohl überstehen konnte.
Die Antwort lautet: schlecht. Page verinnerlicht die Rolle. Ruft sich Sylvias Martyrium in allen Details ins Gedächtnis: «Sylvia krallte sich im Todeskampf in den Betonboden, bis ihre Fingerspitzen nur noch eine blutige Masse waren, kaute wie im Wahn auf ihren Lippen, biss sich förmlich durch den Schmerz hindurch. Als ihre Leiche gefunden wurde, sah es so aus, als hätte sie zwei Münder.» Isst fast nichts mehr. Will sich selbst mit dem unmenschlichen Hunger, den Sylvia litt, bestrafen. Versucht, dem Körper, den er so sehr hasst, zu entkommen.
Das Einzige, was Page am Leben hält, ist die Aussicht auf «Juno». Er will die Rolle unbedingt, doch zuerst muss er wieder essen lernen. Kriegt Panikattacken, wenn er in ein Sandwich beissen soll, kann nicht schlucken, schafft es schliesslich durch reine Willenskraft, immer mit dem Ziel «Juno» vor Augen. Das Drehbuch von Diablo Codi ist zu genial.
Zur Schauspielerei kommt Elliot mit zehn, mit elf gibt's die erste grosse Serienrolle zuhause in Kanada und auch gleich den ersten Stalker mit dazu. Es ist ein Klassiker: Ein junger Erwachsener schreibt einem Kind, wie interessant und toll er es findet, es fühlt sich geschmeichelt und vertraut ihm, zumal Elliot damals die ersten Selbsthasswellen seiner Geschlechtsdysphorie über sich zusammenschlagen fühlt und sich Suizidgedanken hingibt. Da hilft der nette Fremde. Erst als Page sechzehn ist, meldet er sich mit widerlichen sexuellen Fantasien. Page erwirkt ein Kontaktverbot.
Es gibt in Elliots Leben immer wieder Männer, zu denen er sich hingezogen fühlt, aber vor allem Frauen. Sein Einstieg in Hollywood erinnert an frühere Jahrzehnte, an die 30er-, 40er- oder 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts, als homosexuelle Schauspielerinnen und Schauspieler oft heterosexuelle Fassaden-Ehen führten, die nur dazu da waren, in der Öffentlichkeit das Image eines für das Mainstream-Publikum begehrenswerten Stars aufrechtzuerhalten. Privat lebten die meisten, was sie leben wollten.
So auch Elliot Page. Vordergründig muss er das süsse Mädchen mit gewelltem Haar und gross geschminkten Augen auf hohen Absätzen verkörpern. Ein Horror. Seine verhasste Drag-Performance. Seine schlimmste Vorstellung ist, einen Kostümfilm drehen zu müssen, Korsetts, Krinolinen, viele Schichten von Frauenkleidern zu tragen, niemals würde er bei so einem Projekt zusagen. Privat versucht er, sich die Weiblichkeit abzutrainieren, ein Hard Body zu sein, so androgyn wie möglich, es gelingt bedingt.
Privat kleidet er sich auch weiterhin wie Elliot aus «E.T.» und hat seine Affären. Mit Olivia Thirlby, die in «Juno» mitspielt, ein Wunder, dass die beiden überhaupt zum Drehen kommen, mit Kate Mara, mit Dutzenden anderer Frauen, Elliots Herzensbrecher-Rate muss riesig sein, erstaunlich, wie wenig davon an die Öffentlichkeit gelangte.
Glück gibt es immer nur kurz, zu gross ist die Verunsicherung im eigenen Körper, er liebt Frauen über alles, doch sich selbst kann er als Frau nicht annehmen. Wenn er an einem Fenster oder Spiegel vorbeigeht, fühlt er sich schizophren, das Wesen im Glas ist eine Fremde, die er so nicht spürt.
2014, mit 26, dann das erste Coming-out. Als Lesbe. Quasi ein Etappensieg der Befreiung, eine Teil-Erleichterung, denn wenigstens wagt sich Page jetzt mit seinen Freundinnen in die Öffentlichkeit. Das halbe Versteckspiel hat ein Ende. Die Anfeindungen sind gross, namhafte Schauspieler beschimpfen ihn, der Spruch, den jede Lesbe mindestens einmal im Leben hört, dass sie nur endlich mal richtig von einem Mann gevögelt werden müsse, fällt auch jetzt.
«Pageboy» ist eine Leidensgeschichte. Ist viele Liebesgeschichten. Ist eine Lebensgeschichte. Und eine Überlebensgeschichte. Denn während der Pandemie entscheidet sich Elliot zur Geschlechtsangleichung. Zur Operation, zur Hormontherapie, dazu, dass die Tür zum alten Leben komplett aus den Angeln gehoben wird. Oder dazu, dass sie endlich richtig eingehängt wird. Sich endlich in Richtung neues Leben öffnen lässt. In Richtung wahres Leben.
Ausgerechnet Jordan Peterson, der Guru jener Männer, die an einer alten Männlichkeit festhalten wollen, twittert: «Remember when pride was a sin? And Ellen Page just had her breasts removed by a criminal physician.» (Erinnert ihr euch noch an die Zeit, als Pride eine Sünde war? Und Ellen Page hat sich gerade ihre Brüste von einem kriminellen Arzt entfernen lassen.)
Elliots Vater herzt Petersons Tweet. Endlich weiss Elliot, woran er mit ihm ist. Ganz anders reagiert die Mutter (die Eltern sind seit Jahrzehnten geschieden): Mit der Erlösung des Sohnes kann auch sie sich endlich von allen Erwartungen lösen, die sie wider besseres Wissen hatte. Mutter und Sohn sind heute sehr glücklich miteinander.
Elliot Page ist heute 36, hat sein Buch ohne Ghostwriter geschrieben. Eine irre Leistung. Denn «Pageboy» ist fantastisch: ehrlich, mitreissend, poetisch, rührend, brutal, ein rasendes Roadmovie durch ein immer noch sehr junges Leben, eindringlich, eine Hollywood-Saga – und eine traurige Liebeserklärung an Ellen, die er endlich ablegen konnte. Wie eines seiner alten Kostüme.
«Pageboy» von Elliot Page gibt es unter diesem Link auf Englisch. Und unter diesem auf Deutsch.