Heute schreibe ich euch aus einem Stundenhotel. Es steht dort, wo Zürich fast nicht mehr Zürich ist. Wo Autohändler und Autowaschanlagen einander gute Nacht wünschen, und dazwischen liegen Kitas mit niedlichen Namen, die aber auch nichts nützen. Rumpelchischte, Chäferliburg oder Schpilhüsli. Die Kinder, die hier gehütet werden, werden sich zum 10. Geburtstag trotzdem eine Therapie wünschen. Grün ist hier einzig die Logopalme einer Mall.
In der einen Ferne sehe ich verschneite Berge, in der anderen ahne ich: Aargau. Dort, wo alle mit einem Gespür fürs Groteske herkommen: DJ Bobo, Patty Basler, ich. Aber hier, schon fast am Ende der Welt, quasi dort, wo Las Vegas in die Wüste überginge, leben andere. Menschen mit übergrossen Träumen, die in ihren Schränken vielleicht ein paar Cowboy-Boots versteckt haben.
Ein Stundenhotel also. Seit jeher dazu da, dass sich Menschen, die aufeinander abfahren, kurzfristig und günstig beglücken können, weil sie keine Gelegenheit haben, das zuhause zu erledigen, oder weil sie nicht in der schönen Sendung «Reality Shore» wohnen. Oder weil sie in der Prostitution arbeiten.
Oooooder: Weil das Stundenhotel während Corona in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Dort, wo sich Homeoffice-Gebot und Beim-besten-Willen-nicht-zuhause-sein-Können an gewissen Tagen schicksalhaft kreuzen. Für derart Verstossene bieten Hotels nun eben tagsüber günstig leere Zimmer zum Arbeiten an. Einfach anrufen und fragen. Total super, muss ich sagen. Aber natürlich ein Ausnahme-Luxus in einer Ausnahme-Zeit.
Ich dachte, dass es eine gute Idee sei, an diesem Ort, wo das historische Geschäft mit dem Begehren in allgemeine pandemische Geschäftstüchtigkeit übergegangen ist, von einem Phänomen Abschied zu nehmen, das uns in den letzten Wochen so sehr aufgewühlt hat wie kein zweites: «Reality Shore», das Exzess-Camp, der Rammel-Reigen, das Ramsch-Trinken auf Kreta. Ich dachte, ey, auch diese Menschen sind im Grunde Menschen und haben deshalb eine zweite Chance verdient.
Als erstes widmete ich mich zwei Tattoos. Dem Brustbeintattoo von Belly. Dem Oberarmtattoo von Emanuel. Da werden Statements gemacht. Belly hat sich dauerhaft die drei Buchstaben YSL eingravieren lassen. Das könnte natürlich «Ych Suech Liebi» heissen, ist aber das Kürzel des Luxus-Brands Yves Saint Laurent.
Emanuel hat sich für das Motiv «Mädchen mit Ballon» von Banksy entschieden. Also für das Bild, das sich 2018 in einer Auktion nach der Ersteigerung für sagenhaft viel Geld selbst schredderte. Was will Emanuel uns damit sagen???
Überflüssige Frage. In einem Format, wo schon zum Frühstück Cocktails geschlürft werden, ist die Selbstschredderung ganz klar Teil des Konzepts.
Leute, ich bin so alt, ich hab die mediale Entstehung einer Daniela Katzenberger 2009 noch in Echtzeit im linearen Fernsehen mitverfolgt. Oder gabs da schon Replay? Ich weiss es nicht mehr. Und das hat jetzt auch gar nichts zu sagen, ich wollte dies bloss mal loswerden. Vielleicht auch, weil eine Katzenberger gegen Belly, Mia, Gina, Nara, Melody, und wie sie in «Reality Shore» alle geheissen haben werden, schon fast was Heiligenartiges hatte.
Ihr Traum war damals, wenn sich irgendwer ausser mir daran erinnert, in Hugh Hefners Lustgrotte zu gelangen. Doch weil sie das mit der Redlichkeit einer Betreuerin aus der Chäferliburg versuchte, hatte sie keinen Stich. Eine Melody hätte sich bei Hefner ihre Füdli-Implantate rausgelangweilt. Apropos Erinnerungsarbeit und TV-Geschichte: Völlig out of context – wer weiss noch, wer Salome Clausen war?
Okay, zurück zu «Reality Shore». Ich sah, wie der auf mich total unappetitlich wirkende Silvio ausflippte, weil er beim Badezimmerputzen auf ein gebrauchtes Ohrstäbchen und das Abziehpapier über dem Klebestreifen einer Damenbinde stiess. «Asozial!!!!» Das Abziehpapier!
Er hätte sogar auf eine gebrauchte Damenbinde stossen können und es wäre normal gewesen! Aber da er offenbar (er war so besoffen, dass ihn niemand richtig verstanden hat) aus lauter Ekel vor Hygieneprodukten für Frauen den Badezimmer-Mülleimer nicht leerte, lief er keine Gefahr, so etwas mit seinen eigenen, schambehafteten Augen sehen zu müssen.
Und von wem stammt der Satz: «Wenn n' Girl an meiner Seite sein will, dann muss sie sich verfickt nochmal Mühe geben»? Auch von Silvio.
Danilo soff an der Geburtstagsparty seiner Gina so viel, dass er keinen Geburtstagssex mehr schaffte. Und weil sie ihm das genau so vorhergesagt hatte, verliess er sie direkt nach der Sendung. Auch Mia sagte ihrem Yasin öfter, er solle nicht so viel trinken, aber in der allerletzten Folge hatten sie sich trotzdem noch lieb. Danach betrog er sie mit einer deutschen Influencerin. Ihr seht schon, das priapische* Treiben der Trunksüchtigen hinterliess in mir nichts als Leere. Erkenntnisgewinn war vorvorgestern.
Das Erstaunlichste: Wie brav Kampfkatze Mia wird, wenn sie verliebt zu sein glaubt. Fast hatte ich Mitleid mit ihr. Fast ging sie mir ans Herz. Hier, wo Zürich fast nicht mehr Zürich ist. Und wo der Wind gerade wilde Wolken über die weite Prärie zwischen Uetliberg und Hönggerberg treibt und irgendwo, vielleicht im Zoo, eine Hyäne heult.
Die letzte Folge von «Reality Shore» läuft seit dem 5. Januar auf dem Streamingsender oneplus.ch.
*veraltet für «unzüchtig». Von «Priapismus» stammend, einer schmerzhaften Dauererektion.
So etwas zeigt man doch sonst auf Guantanamo, wenn Waterboarding nicht mehr funktioniert.
Hat man die etwa wieder von der Insel abgeholt? Warum??