Plötzlich ist die Schweiz der schwärzeste Punkt auf der Weltkarte. Das unsicherste Land mit der laschesten Polizei, ein Staat voller «Ungeheuer» und «Mordbrutstätten», wie die internationalen Medien schreiben. Es ist im September 1898. In Genf hat der italienische Anarchist Luigi Lucheni die Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn erstochen. Am 10. September um 13.35 Uhr, so berichtet ihre Hofdame, Gräfin Sztáray, der Polizei, hat er ihr auf dem kurzen Weg vom Hotel Beau Rivage zur Schiffsanlegestelle eine Feile in die Brust gerammt.
Um 14.40 Uhr tut Sisi ihren letzten Atemzug, wenige Stunden später weiss bereits ganz Wien Bescheid, die Welt gerät aus den Fugen. Abertausende gehen auf die Strasse.
Innerhalb des Habsburgerreiches werden Italiener zur Zielscheibe von unkontrolliertem Hass, und in Wien unterzeichnen 16'000 Frauen einen erstaunlichen öffentlichen Brief, in dem sie sich eine möglichst grässliche Folter für den Attentäter Lucheni wünschen: «Höre, Ungeheuer: Wir wollen Dich auf einen Tisch legen – wir, die wir ein gutes Herz haben, wir könnten mit Vergnügen zuschauen, wie man Dir die beiden Arme und Füsse abschnitte. Um Deine Schmerzen zu versüssen, würden wir Deine Wunden mit Essig waschen und sie dann mit Salz trocknen.» Der Brief erinnert an die Orgien griechischer Rachegöttinnen.
Mark Twain, der so viel reist wie kein anderer Schriftsteller seiner Zeit, wird in Österreich Zeuge der Raserei: «Nicht einmal der Mord an Caesar vermochte die Welt so sehr zu erschüttern wie der an Elisabeth», schreibt er. Allein 30'000 Menschen werden in Genf am 14. September ihren Sarg zum Bahnhof begleiten, Franz Joseph und der Bundesrat sind dabei. In Lausanne warten 10'000, um einen Blick auf den traurigen Zug zu erhaschen, Behörden stehen Spalier, Kirchenglocken läuten, so ist es auch in Fribourg, Bern, Aarau, Baden und Zürich.
Lucheni sitzt unterdessen in Genf im Gefängnis und wünscht sich eine Verlegung nach Luzern, denn dort ist im Gegensatz zu Genf die Todesstrafe noch in Kraft. Es wird ihm nicht gestattet. Er wird sich 1910 durch Erhängen von der lebenslangen Gefängnisstrafe befreien.
Dass Sisi in Genf ums Leben kam, ist bekannt, am 10. September jährt sich ihr Todestag zum 125. Mal. Dass sie auch sonst enge und gute Beziehungen zur Schweiz pflegte, weiss man nur punktuell. Etwa, dass sie am Genfersee nicht nur Genf gern besuchte, wo ihre Freundin Julie Rothschild im Château de Pregny residierte und als Bankiersgattin Geld wie Heu zur Verfügung hatte, sondern dass sie auch in Territet bei Montreux oft im Grand Hôtel et Hôtel des Alpes residierte.
Oder dass sie sich im Tessin derart in das melancholisch-monumentale Werk des Bildhauers Antonio Chiattone verliebte, dass sie bei ihm ein Prinz-Rudolf-Denkmal für ihre Villa auf Korfu bestellte. Der Kronprinz hatte sich und seine 17-jährige Geliebte 1889 erschossen.
Doch das sind nur winzige Pailletten im funkelnden Reisegewand, das Sisi während ihres Lebens über die Schweiz geworfen und mit dem sie den Tourismus mächtig angekurbelt hat. Der Adelshistoriker Michael van Orsouw hat sie nun im Band «Sisis Zuflucht: Kaiserin Elisabeth und die Schweiz» geborgen und gesammelt und in einen Kontext gebracht. Nun ist Sisi eine rundum solide dokumentierte Persönlichkeit, der Hof protokollierte jeden ihrer Schritte, die Medien ihrer Zeit liebten sie, ihre rastlose Reisetätigkeit hinterliess viele behördliche und touristische Spuren, ihre Hofdamen verfassten Tagebücher und so weiter.
Trotzdem macht einen die schiere Menge der Quellen, die van Orsouw konsultierte (erstaunlich, wie viele Zeitungen es damals in der Schweiz gab!), und der Fachleute, die er kontaktierte, wie bei so mancher historischen Recherche schwindlig. Das ist eine phänomenale «Büez», die sich phänomenal gelohnt hat: Wahnsinn, wie neu und intensiv man dieser Frau vor der uns gut bekannten Kulisse noch einmal nahe gerät. Wie vertraut und fremd zugleich sie noch einmal wird, wie komplex, wie wenig märchenhaft.
Acht Jahre vor ihrem Tod vermacht Sisi der Schweiz einen besonderen Schatz: eine Schatulle mit persönlichen Notizen, Originalen des von ihr sehr verehrten Dichters Heinrich Heine und eigenen Gedichten. Doch so sehr sie für Heine schwärmt, so wenig hat sie von ihm gelernt: Ihre Gedichte sind bei weitem das Peinlichste, was es von ihr gibt. Als der Bundesrat die Schatulle 1951, nach Ablauf der von Sisi festgesetzten Frist, öffnet, sieht er sich in einer delikaten Lage: Er muss den Nachfahren der Kaiserin ganz deutlich klarmachen, von einer Veröffentlichung ihrer Ergüsse abzusehen, weil diese «dem Andenken der Kaiserin abträglich» sein könnten, wie der Bundespräsident befürchtet.
Über die Gefahr eines anarchistischen Anschlags in der Schweiz, vor der sie mehrfach gewarnt wurde, dichtete sie einmal:
Schweizer, Ihr Gebirg ist herrlich!
Ihre Uhren gehen gut.
Doch für uns ist sehr gefährlich
Ihre Königsmörderbrut!
Das herrliche Gebirg also. Dass Sisis alpine Fähigkeiten der einer Gämse glichen, ist keine Erfindung der «Sissi»-Filme. Die Frau war überdurchschnittlich sportlich. Eine besessene, gelegentlich tollkühne Reiterin, eine unermüdliche Turnerin mit Sprossenwänden und anderen Geräten in jeder ihrer royalen Behausungen und eine begeisterte Wanderin.
Der Sport war die gesündere Seite ihres lebenslangen Schönheitskults. In jungen Jahren hatte sie als schönste Frau Europas gegolten, dieses Image versuchte sie bis zuletzt zu konservieren. Ihr Gesicht konnte sie vor dem Altern nicht retten, das verbarg sie in der Öffentlichkeit jahrzehntelang hinter Schleiern und Fächern, aber ihre Figur konnte sie bewahren. Mit immer rigoroseren Diäten. Man kann es auch einfach beim Namen nennen: Sisi war magersüchtig mit sozusagen abnehmender Tendenz.
Als sie 1897 in Territet logiert, besteht ein besorgter Arzt auf einer Untersuchung: Die 172 Zentimeter grosse Kaiserin wiegt nur noch 46 Kilo. An ihren Knöcheln haben sich seltsame Schwellungen entwickelt – Hungerödeme. Sie raucht viel und isst kaum, und ihre Diätmethoden sind oft mit langen Fussmärschen zu abgelegen Chalets verbunden, wo sie sich von den Bauern frische Milch und ein rohes Ei servieren lässt. Manchmal isst sie tagelang nichts als ein paar Orangen, ersetzt eine Mahlzeit durch etwas rohes, gesalzenes Eiweiss oder isst gar nichts. Kein Wunder, wird die inzwischen 60-Jährige von Rheuma und Gelenkschmerzen geplagt. Dagegen nimmt sie – wie es damals üblich ist – Opium und Kokain.
Doch wir begegnen in «Sisis Zuflucht» nicht nur der alternden Elisabeth, über die ein welscher Passant sagt: «Ich sah ein mir uralt vorkommendes Gesicht voller Runzeln», und nicht nur der leichten Esoterikerin, die – vielleicht unter Opium – im Hotelgarten von Territet ihren Todesengel zu sehen glaubt.
Bereits mit 19 hat Sisi nämlich zum ersten Mal Verwendung für die Schweiz. Während einer kaiserlichen Dienstreise in Ungarn ist die kleine Tochter von Sisi und Franz Joseph an Typhus erkrankt und stirbt. Die junge Kaiserin verfällt einer Depression. Und was tut man gegen eine Depression, wenn man es sich leisten kann? Man lässt andere für sich beten.
Sisi engagiert die Nonnen des zum Kloster Einsiedeln gehörenden Frauenklosters Au in Trachslau. Das Kloster betreibt die sogenannte «Ewige Anbetung», also ein 24/7-Gebet. Zwei Jahre lang schliessen die Nonnen Sisi in ihre Ewige Anbetung ein, sie schenkt ihnen dafür einen Messkelch aus Gold und Reliquien – angeblich Knochen von Maria und vom heiligen Franziskus persönlich.
Franz Joseph spendiert wenig später dem Kloster Einsiedeln zwei 3,5 Meter hohe Porträts von sich und Sisi, das Kleid seiner Frau wirkt wie ein blauer Himmel mit Schäfchenwolken, sie selbst jung und überaus gesund. Möglicherweise will Franz Joseph damit Napoleon III. ausstechen, der Einsiedeln ebenfalls ein Porträt von sich und Gattin Eugénie vermacht hat. Es ist nach der Schlacht von Solferino. Franz Joseph hat beim «Frieden von Zürich» die Lombardei an Frankreich verloren und auch sonst einige Erniedrigungen einstecken müssen.
1864 posiert Sisi in einer «Schweizer Bluse» samt «Berner Gürtel», beide sind in Anlehnung an Schweizer Trachten entstanden. Im Prater gibt es das chaletähnliche «Schweizerhaus», in dem sich die Wiener Bohème trifft, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal holen sich dort ihre Inspiration, der helvetische Alpenchic ist jung und frisch, wer stilbildend sein will, schmückt sich damit.
Doch erst mit 29 reist Sisi zum ersten Mal unter ihrem Pseudonym «Gräfin von Hohenembs» in die Schweiz. Ihre Schwester Mathilde, die einen italienischen Prinzen geheiratet hat, ist gerade Mutter geworden. In Zürich. Und natürlich nicht irgendwo, sondern in der klandestinen Dépendance des Hotels Baur au Lac. Es handelt sich um eine Villa mit dem Namen «Venedigli» (sie existiert schon lang nicht mehr), einem ehemaligen Herrenclub in der Enge.
1743 hatten ihn hedonistische Zürcher ausserhalb der zwinglianischen Stadtmauern erbauen und ihn über einen künstlichen Kanal mit dem See verbinden lassen, damit die Illusion einer Lagune entstand. Jetzt gehört das Venedigli dem Hoteldirektor vom Baur au Lac und dient als diskrete Unterkunft für besonders prominente Gäste. Sisi und ihre Schwester geniessen die Zeit und die Confiserie Sprüngli am Paradeplatz wird zu ihrem Lieblingscafé.
Schon wenige Monate später, nach dem «österreichisch-ungarischen Ausgleich», an dem Sisi 1867 massgeblich beteiligt ist, kehrt sie nach Zürich zurück. Doch in der Schweiz betrachtet man die royalen Touristen jetzt skeptisch. Sie könnten die Pandemie mit sich bringen. Wien ist zur Seuchenstadt geworden, die Cholera ist ausgebrochen. Zum Glück für Sisi wird das Tessin zum ersten Schweizer Infektionsherd. Nach einem Monat gibt es im September auch in Zürich 684 Fälle, 481 der Infizierten sterben.
Die hohe Todesrate macht alle panisch und Sisi flieht. Nach Schaffhausen. Wo sie romantischen Besuch von Franz Joseph erhält. Die Stadt illuminiert für die beiden den Rheinfall. Und tischt das Beste auf, was die Küche des Nobelhotels Schweizerhof zu bieten hat: Einen Zehngänger mit Suppe, Lachs an Mayonnaise, gefolgt von Lachs an Hollandaise, Roastbeef, Poulet, Rehkeule, Salat, Pudding, Meringues und Früchten.
Und so geht es immer weiter. Mondäne Luxushotels in Luzern und Lugano, deren technisch fortschrittliche Einrichtung die meisten Wohnhäuser jener Zeit übertrifft. Ländlicher gelegene Aufenthalte in Interlaken oder Rigi-Kaltbad. Molke-Diät, Milch-Diät, Eier-Diät. Reisen unter falschem Namen. Erkannt werden von begeisterten Massen. Kunst kaufen. Möbel kaufen. Sich in Konditoreien verlustieren. Geld anlegen. Die Bank Rothschild sorgt dafür, dass aus den zwei Millionen Gulden, die Franz Joseph Sisi als Altersvorsorge geschenkt hat, bis zu ihrem Lebensende 10 Millionen werden. Aus auf heute umgerechneten 25 Millionen Franken werden 125 Millionen Franken.
Immer wieder verschiebt sie An- und Abreisen, was zu halben Staatskrisen führt, weil nicht nur Hotelzimmer für bis zu zwanzig Personen, sondern auch ganze Züge und halbe Bahnhöfe bereitstehen müssen. Hat gute Laune, schlechte Laune. Schreibt depressive Gedichte.
Und ganz wichtig: Sie kauft unentwegt Fotografien in den Ateliers bekannter Fotografen. Dokumentiert das Reisen, scheint in der Flüchtigkeit, die sie zu ihrem Lebensmotto gemacht hat, doch einen kleinen Halt suchen zu wollen. Zwei ihrer Erinnerungsalben mit Schweizer Material hat van Orsouw in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien ausgegraben, beide aus dem Jahr 1993 (sie spielen im Buch allerdings keine Rolle).
Eines zeigt Bilder vom Genfersee, die meisten aus Genf, verrückt, wie weitläufig und prächtig das einmal war, wie sich grosszügige Parkanlagen mitten im heute vollgebauten Stadtzentrum erstreckten, wie monumental Kirchen, Chateaus und Denkmäler wirkten. Das zweite Album ist der Gotthardbahn, Lugano und Mailand gewidmet, das Tessin ist die reinste Fischerdörfchenidylle, der Gotthard dagegen eine schroffe, menschenfeindliche Steinwüste. Die Alben zeigen eine schöne, majestätische, gefährliche, mal sehr reiche, mal sehr einfache Schweiz, auf jeden Fall eine Schweiz, die auf beide Seiten hin nicht weiter von einer Durchschnittlichkeit entfernt sein könnte.
Dabei war es gerade die durchschnittliche Schweiz, in die die Eidgenossenschaft Sisi und Franz Joseph zu locken versuchte. Es gelang nicht, die beiden waren so wenig an der um 1030 gegründeten Stammburg der Habsburger im Aargau interessiert wie unzählige Generationen von Aargauer Schulklassen, die später an einem Heimattag oder einer Schulreise auf die Habsburg geschleppt wurden. Da konnte der Aargau 1895 die Ruine noch so sehr beleuchten, weil Sisi nachts im Zug daran vorbeifuhr, sie hatte wohl die Vorhänge gezogen und nahm sie gar nicht wahr. Und dabei hatte bei ihrem Einzug in die Wiener Hofburg die Habsburg einst als bezauberndes Wahrzeichen der Monarchie gehangen. Der prominente Luzerner Maler Jakob Josef Zelger hatte die Ruine zu einem Locus amoenus, einem lieblichen Ort, zurechtstilisiert.
Einzig ihre 17-jährige Tochter Marie-Valérie hatte die Habsburg 1885 einmal besucht und sich auch höfliche zwei Stunden auf der Ruine aufgehalten. «Sie erkundigte sich mit lebhaftem Interesse nach der Geschichte und den Schicksalen der Burg», wurde in den Medien vermerkt. Die Habsburger, die man einst mit aller Macht hatte loswerden wollen, wurden jetzt flattiert, wo es nur ging.
Auch in der Schweiz wurden die Kaiserin und der Kaiser als verliebtes Paar wahrgenommen, sei es in Schaffhausen am Rheinfall oder am Genfersee. Franz Joseph hatte zwar seine Geliebte, die Schauspielerin Katharina Schratt, die seine Frau ihm organisiert hatte, und Sisi selbst hasste keinen Aufenthaltsort so sehr wie Wien. Es war eine Ehe mit sehr viel Luft und Distanz. Doch die Briefe, die sie einander schrieben, waren auch nach 40 Jahren Ehe noch äusserst zärtlich, und wenn sie zusammen waren, kam höchstens eine Schweizer Kuhschnauze am Wegrand zwischen sie.
Als Franz Joseph die Todesnachricht aus Genf erhält, schluchzt er und sagt: «Sie wissen gar nicht, wie sehr ich diese Frau geliebt habe.» Er muss noch qualvolle 18 Jahre ohne sie weiterleben. Sein Reich steht bei seinem Tod kurz vor dem endgültigen Zerfall.
Michael van Orsouw: Sisis Zuflucht – Kaiserin Elisabeth und die Schweiz. Hier und Jetzt, Zürich 2023. 240 S., viele Abbildungen, ca. 36 Fr.
Da gibt es zwar einige Verschwörungstheorien, wie er tatsächlich gestorben ist, so lange hat er aber ganz sicher nicht gelebt;)