Herr Bucher, was schätzen Sie an den Bräuchen in der Schweiz?
Thomas Bucher: Bräuche haben etwas Faszinierendes und Geheimnisvolles. Wenn man bereits als Kind daran teilnimmt, bleibt die Faszination dafür ein Leben lang. Denn es sind einmalige Erlebnisse, die einen prägen und auch eine Verbindung zur Gemeinschaft geben, in der man lebt.
Braucht es Bräuche?
Für die Gemeinschaft und die Identifikation mit dem Wohnort sind Bräuche eine tolle Sache. Ich stamme aus Hallwil, wo wir den Brauch Bärzeli-Treiben haben. Dabei maskieren und verkleiden sich junge Männer am 2. Januar und wünschen auf einem Umzug durch die Gemeinde allen Menschen ein frohes neues Jahr. Es wäre schade, wenn so ein Brauch ausstirbt, weil er eine Verbindung zu unserer eigenen Vergangenheit herstellt. Schon früher waren Bräuche ein Teil des Gesellschaftslebens und eine Freizeitbeschäftigung – neben dem, dass alle diese Bräuche und Riten einen tieferen Sinn hatten, an den die Menschen glaubten.
Sie haben gerade von einem Brauch für Männer gesprochen. Gibt es mehr Bräuche nur für Männer als für Frauen?
Zumindest in der Schweiz würde ich das so bestätigen. Doch die jüngste Entwicklung zeigt, dass es auch immer mehr einst reine Männerbräuche gibt, an denen nun auch Frauen teilnehmen. Viele alte Traditionen werden für alle Geschlechter geöffnet.
Weshalb gibt es mehr Männer-Bräuche?
Das ist historisch betrachtet so, weil die Frau früher für das Haus sowie die Kinder sorgte und der Mann den Haupterwerb einbrachte und die Familie in der Öffentlichkeit sowohl rechtlich als auch gesellschaftlich vertrat.
Und gleich geht es weiter mit den Traditionen für Mädchen, aber zuerst eine kurze Werbeunterbrechung:
Und nun zurück zum Interview ...
Und deshalb sorgten die Männer nur für die eigene Unterhaltung?
Wie gesagt, Frauen waren in der Öffentlichkeit, wenn nicht in Begleitung ihrer Familie oder bei der Arbeit, eher selten in der sonst schon spärlichen Freizeit anzutreffen. Die meisten Vereine und ähnliche Gesellschaften waren bis ins 20. Jahrhundert hinein rein männerdominiert. Und diese Burschenschaften haben die Bräuche am Leben gehalten. Es gab lange fast keine Frauen-Vereine, nicht einmal im Sport. Viele Bräuche sind mehrere hundert Jahre alt. Erst die Krisen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten dazu, dass viele Bräuche ganz ausstarben.
Danach hat man die Bräuche wieder aufleben lassen?
Genau, spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Bräuche zu neuem Leben erweckt und bis jetzt in ähnlicher Form weitergeführt. Viele dieser Bräuche sind in ihrer heutigen Version maximal 60 oder 80 Jahre alt, weil sie modernisiert und leicht verändert wurden. Es gab übrigens bereits vor dem Zweiten Weltkrieg Krieg Bräuche, die ausschliesslich für Frauen gedacht waren. Etwa die Meitli-Tage in Meisterschwanden und Fahrwangen.
Was ist das?
Ein Brauch, bei dem die Frauen für drei Tage symbolisch die Herrschaft über die beiden Dörfer übernehmen. Frauen in schwarzen Trachten gehen am Meitli-Donnschtig zur Braucheröffnung von einer Beiz in die nächste und nehmen jeweils einen Mann gefangen, der mit ihnen in die nächste Beiz muss. Eröffnet wird der Anlass zudem von einer Tambouren-Gruppe, die ausschliesslich aus Frauen besteht.
Ist das nicht etwas sehr stereotypisch mit dem Männer-Fang?
Ich glaube, das mit dem Herauskaufen der Männer ist eher eine Erscheinung der Meitli-Tage aus neuerer Zeit, rein schon aus finanziellen Gründen. Der Männerfang ist historisch gesehen Teil dieses Rollentausches. Der Mann gibt sich dabei bewusst wehrlos. Viele alte Bräuche sind neu interpretiert worden, um diesen neuen Aufschwung zu verleihen. Aber die Männer sehen es in diesem Fall mehr als Ehre, gefangen zu werden und sich herauskaufen zu dürfen. Der Hintergrund des Brauches leitet sich meiner Ansicht nach nicht von Stereotypen ab.
Wovon sonst?
Historisch stammt der Brauch aus der Zeit des Zweiten Villmergerkriegs, in dem sich katholische und protestantische Eidgenossen bekämpften. Die Legende besagt, dass die Männer den Krieg nur gewonnen haben, weil die Frauen ihnen im Kampf gegen die Katholiken zu Hilfe gekommen sind. Es heisst, dass es seitdem diesen Brauch gibt, den Frauen in den zwei Dörfern als Dank die Herrschaft für ein paar Tage zu übertragen. Es gibt keine zeitgenössischen Quellen dieser Legende, aber die Meitli-Tage sollen demnach über 300 Jahre alt sein.
Sind die Meitli-Tage der älteste Brauch nur für Frauen?
Das ist schwierig zu sagen, da bei vielen Bräuchen die historischen Quellen fehlen. Es gibt aber sicher gewisse Bräuche und Traditionen, die von den Alemannen, den Vorfahren von uns heutigen Deutschschweizern, stammen. Irgendwann wurden diese Bräuche christianisiert, haben ihren ursprünglich heidnischen Sinn verloren und haben neue Formen angenommen. Viele Bräuche hatten mit dem Jahreszyklus in der Landwirtschaft zu tun, die uns bis in die jüngste Zeit geprägt hat. Masken und Lärm vertreiben böse Geister und begünstigen eine gute Ernte, so der alte Glaube.
Gibt es dafür ein Beispiel eines Brauches, der nur für Frauen ist?
Ebenfalls im Kanton Aargau gibt es das Wiehnachts-Chindli. Dabei wird an Heiligabend und dem ersten Weihnachtstag ein Mädchen in weisse Schleier eingehüllt und von anderen Mädchen begleitet, die dann zusammen singend von Tür zu Tür gehen und Weihnachtsgebäck, früher auch Geschenke, verteilen. Der Name des Brauches ist christlich, aber das Christkind ist in Hallwil interessanterweise weiblich! Oder in Appenzell gibt es die Fronleichnamsprozession, bei der vor der Messe ein traditioneller Einzug zur Kirche stattfindet. Die Messe an sich ist zwar für Männer und Frauen, aber nur die Frauen erscheinen beim Einzug im Dorf in Sonntagstracht. So etwas ist eher selten, weil bei vergleichbaren Anlässen sowohl Männer als auch Frauen Trachten tragen.
Sollten mehr Bräuche, die historisch nur für Männer waren, auch Frauen zugänglich sein?
Ich finde es gut und zeitgemäss, dass sich immer mehr Bräuche für Frauen öffnen. Es gibt viele Bräuche, die man ohne Weiteres und ohne den Brauch zu verändern, für Frauen öffnen kann. Bei einigen Bräuchen ist dies aus physischen Gründen schwieriger. Etwa beim Chienbäse-Umzug in Liestal, wo die Männer mit bis zu 100 Kilo schweren brennenden Besen und Wagen durch die Altstadt ziehen. Umgekehrt gibt es auch reine Frauenbräuche, bei denen der Brauch historisch betrachtet keinen Sinn mehr ergeben würde, wenn Männer daran teilnehmen würden.
Welche?
Die Meitli-Tage zum Beispiel würden keinen Sinn mehr ergeben, wenn auch Männer mitmachen. Das entspräche nicht mehr dem Zweck der Tradition, wonach die Männer den Frauen die Macht für drei Tage übertragen. Aber bei den allermeisten Bräuchen, die einen allgemeineren Sinn haben wie Winter vertreiben – man denke an die Fasnacht –, gibt es absolut Sinn, diese für alle zu öffnen.
Wird es in Zukunft neue Bräuche geben?
Ein Brauch ist ein Anlass, der sich innerhalb einer Gruppe von Menschen wiederholt und mit gewissen Ritualen einhergeht. Von dem her wird es wahrscheinlich immer wieder neue Bräuche geben.
Ein Beispiel?
In Zukunft wird es vielleicht zum Brauch, dass sich viele Spielkonsolen-Fans einmal jährlich an einem bestimmten Ort treffen, um die alten Games zu spielen. Oder ein jährlicher Gedenkmarsch zur Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz hätte wohl vor 1971 wenig Sinn gemacht, könnte aber jederzeit entstehen. Der Begriff des Brauches ist also sehr breit zu verwenden und muss nicht immer auf ein historisches Ereignis zurückzuführen sein. Bräuche finden jedoch regelmässig statt und folgen bestimmten Riten, die sich stetig und jederzeit verändern können, da sie nicht in Stein gemeisselt sind oder staatlichen Gesetzen folgen.
Wie sieht es mit Bräuchen für Frauen weltweit aus?
Welche und wie viele Bräuche es weltweit nur für Frauen gibt, ist mir nicht detailliert bekannt. Mir fallen spontan die Klageweiber in Rumänien ein, die an Beerdigungen gehen, um dort öffentlich zu weinen und die Verstorbenen zu beklagen. Doch diese Tradition ist nur noch in ganz wenigen Dörfern erhalten. Mit der Gleichstellung der Frau und ihrem verstärkten Eintritt ins Erwerbsleben geht einher, dass Frauen wie Männer gleichberechtigte Akteure in der Öffentlichkeit sind. Eine Abkehr von den alten patriarchalischen Strukturen wird automatisch auch dazu führen, dass Frauen ebenso an den meisten Bräuchen und Traditionen teilhaben werden – auch in der Schweiz.
Das kann ich so nicht unterschreiben.
Bei mir war es so, dass ich je älter ich wurde, Traditionen immer mehr hinterfragt habe und mich von vielen Traditionen, die ich als Kind geliebt habe, abgelegt habe. Dabei war es egal, ob es heidnische, religiöse oder familiäre Traditionen waren.