Blut sehen und umkippen: Was hinter der Ohnmacht steckt
Als der Student die Spenderleber einer verstorbenen Person sieht, klappt er zusammen. Und der Schwiegervater wird ganz bleich, wenn seine Tochter – eine Ärztin – von der Wundversorgung eines Patienten spricht. Grund dafür ist eine weitverbreitete Reaktion: Fünf bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung neigen dazu, beim Anblick von Blut, Verletzungen oder Spritzen ohnmächtig zu werden. Drei Prozent der Menschen leiden sogar an einer echten Phobie. Besonders häufig betroffen sind Kinder, Jugendliche und Frauen häufiger als Männer.
Für sie muss Halloween der blanke Horror sein. In dieser Zeit wimmelt es in Onlineshops von Silikonhänden mit fauligen Wunden, blutigen Organen, täuschend echten Tätowierungen offener Schnittverletzungen. Wieso klicken sich einige Leute mit Freude durch dieses Angebot an Blut und Glibber und andere kollabieren schon beim winzigsten Tropfen Blut?
Die Neigung zur Ohnmacht hat – zumindest teilweise – genetische Ursachen. Das fanden australische Neurologen heraus, nachdem sie 51 Zwillingspaare und deren Angehörigen befragt hatten. Sie stellten fest, dass bei eineiigen Zwillingen beide Geschwister doppelt so häufig betroffen sind wie bei zweieiigen. Ein einzelnes Ohnmacht-Gen gibt es aber wohl nicht. Vielmehr scheint es das Zusammenspiel verschiedener Erbanlagen zu sein.
Traumatische Erinnerungen
Und natürlich wird man nicht einfach so bewusstlos. Immer braucht es einen Auslöser, etwa Angst, Ekel oder Stress. Dass Blut solch heftige Gefühle auslöst, kann daran liegen, dass man selbst traumatische Erlebnisse damit gemacht hat, etwa eine schwere Verletzung. Oder zumindest von einem solchen beängstigenden Ereignis gehört hat, etwa, dass ein Freund einen schweren Unfall und dabei viel Blut verloren hatte.
Jedenfalls aktivieren diese heftigen Reaktionen das autonome Nervensystem, was in einer sogenannten vasovagalen Reaktion münden kann. Dabei schaltet der Körper auf «Kampf oder Flucht». Zuerst steigen Puls und Blutdruck. Danach aber passiert bei der Blutphobie etwas, das bei anderen Phobien – etwa Spinnenphobie – nicht passiert: Die Reaktion kippt. Der Herzschlag verlangsamt sich, der Blutdruck sackt ab – es kommt zur Ohnmacht. Evolutionär betrachtet könnte das sogar hilfreich gewesen sein. Denn wenn man verletzt ist, verliert man so weniger Blut und ausserdem wirkt man in Ohnmacht für Angreifer tot.
Konfrontationstherapie hilft
Die gute Nachricht: Wer unter einer Blutphobie leidet, kann sich behandeln lassen. Für Betroffene ohne Ohnmachtsneigung eignet sich eine Expositionstherapie: Schrittweise werden sie mit angstauslösenden Reizen konfrontiert – mit dem Ziel, die Angstreaktion zu mindern und irrationale Gedanken abzubauen. Bei Menschen, die in Ohnmacht fallen, kommt eine andere Methode zum Einsatz: die sogenannte angewandte Anspannung nach Öst. Dabei wird das gezielte Anspannen grosser Muskelgruppen geübt, um den Blutdruck zu stabilisieren. Die Konfrontation mit den Auslösern erfolgt schrittweise – stets in Verbindung mit aktivem Muskelanspannen.
Und was ist nun mit jenen, die sich mit Freude in die Halloween-Zeit stürzen und beim Anblick von Kunstblut glänzende Augen bekommen? Auch für diese Faszination gibt es eine Erklärung, sie heisst morbide Neugier. Menschen mit dieser psychologischen Eigenschaft haben ein ausgeprägtes Interesse an Bedrohlichem, Abscheulichem, Grausigem. Sie schauen gern Horrorfilme, lesen über Serienmörder oder Naturkatastrophen. Studien zeigen: In ihrem Gehirn reagiert das Belohnungssystem stärker, wenn sie sich zum Beispiel bei der Auswahl einer Netflix-Serie statt für eine mit positivem Inhalt für eine mit negativem Inhalt entscheiden.
Möglicherweise steckt auch hinter diesem Verhalten ein evolutionärer Vorteil. Wer sich für Bedrohliches interessiert, kann Gefahren besser einschätzen und ihnen im Ernstfall ausweichen. Denn wenn man weiss, wie jemand verletzt wurde, kann man daraus ableiten, wie man sich besser schützt. (aargauerzeitung.ch)


