Es gibt diesen Moment, den nur eine Serie herbeizaubern kann: Das Warten war lang, und dann sind sie wieder da, ganz nah, mitten im eigenen Leben, und man möchte weinen vor Erleichterung und einfach mal Danke sagen.
Danke, Rosa Wilder (Sarah Spale), danke, Manfred Kägi (Marcus Signer), I love you, you mean the world to me. Danke, dass ihr mich nicht vergessen habt. Die harten Dramen hinter den Verbrechen, die euer Alltag sind, haben sich unendlich attraktiv in eure Gesichter gekerbt, eure spitzen kleinen Wortgefechte sind die besten. Und im Kern die liebevollsten.
Und sonst? Rosa hat viel gelernt. Sie war ja seit der ersten Staffel in den USA und machte ihre Ausbildung zur Profilerin. Ach ja, ein Kind hat sie auch noch gemacht in der Zwischenzeit. Wo das wohl herkommt?
Kägifret hat dagegen nicht allzu viel geleistet, geschweige denn gelernt, seine Impulskontrolle ist immer noch eher fragil, aber seine Garderobe ist super, sein Herz riesig und sein Berndeutsch ... okay, lassen wir das, es wäre nicht jugendfrei.
Unser Videoteam war ja schon in den Vorspann von «Wilder 1» komplett verknallt und stellte ihn mit Hilfe unseres nicht immer so ganz appetitlichen Redaktions-Gefrierfachs nach.
Im Direktvergleich zum Vorspann von «Wilder 2» ist die splitternde Eisdecke allerdings so arm wie der Kanton Jura im Vergleich zum Fürstentum Monaco. Da geht es um Werden und Vergehen. Um Verwesen, aber nicht Vergessen. Um das Maskieren einer Wirklichkeit, die noch nie heil war.
Leider können wir das Filmchen hier nicht zeigen, daher nur dieser diskrete Screenshot einer bemoosten, wurmbewohnten Maske, aber merkt euch: Jedes Detail zählt!
Und leiderleider ist nur allzu gut vorstellbar, wie unser geschätztes Videoteam diesen Vorspann mit Hilfe unseres Redaktionskühlschranks, seines Innenlebens und etwas Geduld nachstellen könnte ...
Der Jura ist schön. Der Jura ist arm. Wo «Wilder 2» gedreht wurde, im Dörfchen Undervelier (in der Serie wird daraus Thallingen), lebten vor 150 Jahre mindestens vier Mal mehr Leute als heute. Weil damals die mit der Uhrenindustrie verbundene Eisenindustrie noch boomte. In Undervelier schlossen die Schule, das Hotel, die Raiffeisenbank, ein kleines Café hat noch zwei Mal die Woche geöffnet. Traumhafte alte Häuser gibt's fast umsonst zu kaufen.
Die Landschaft scheint verzaubert, sanfte Hochebenen schweben im Nebel, Schluchten klaffen, schroffe Felsen starren, eine heilige Grotte verrottet. Alles wird genutzt in «Wilder», Drohnen verausgaben sich im Wettstreit um die imposanteste Luftaufnahme, erhofft wird schliesslich auch ein minimaler Tourismus-Schub für die Gegend.
Und: Im Jura lebt Kägis Schwester mit ihrem Sohn Simon. Sie nimmt ihr Leben kein bisschen leichter als ihr Bruder. Wie auch!
Damit man eine ganze Krimi-Serie auf einer einzigen Leiche aufbauen kann, muss man schon ein echtes Ausnahme-Genie sein – so wie David Lynch in «Twin Peaks». Alle anderen spielen (noch) nicht in seiner Liga, sorry to say so. Und daher gilt für sie die Unterhaltungsmaxime: Du sollst nicht mit Leichen geizen! Du sollst mit den kostbaren Gütern Spannung und Horror haushalten, sie diversifizieren, multiplizieren, serialisieren!
Regisseur Pierre Monnard und seine Drehbuchautoren haben sich dies zu Herzen genommen und tragen nun ganz erschreckend zur Dezimierung der jurassischen Bevölkerung bei. Es gibt die gegenwärtige Leichenlinie und die historische und irgendwann müssen sich die beiden wohl kreuzen.
Nur die Pferde sind Zeugen. Nämlich von der entsetzlichen Mehrfach-Exekution, die «Wilder 2» eröffnet. Und auch noch von manch anderem, was auf den Weiden und Gehöften so vollstreckt werden wird. Was wohl in ihren Köpfen vorgeht? Ob sie traumatisiert sind von dem, was die Menschenmonster einander zufügen?
Vieles in «Wilder 2» erinnert an einen Western. Die Pferde am allermeisten. Sie verkörpern den Traum von Schönheit, Freiheit und dem Einbruch der Welt in die allzu eng gesteckten Existenzen von Thallingen vortrefflich. Sie sind mehr als Statisten. Sie sind Seelentiere.
Sie sind Männer mit Vergangenheit. Sie machen ihren Kindern das Leben schwer. Mit zu viel Anhänglichkeit oder zu viel Distanz. Rosa Wilders Vater Paul (Andreas Matti) kommt aus dem Gefängnis – echt? Jetzt schon? Hat der nicht insgesamt 13 Menschen auf dem Gewissen? 12 Kinder und einen alten Künstler? – und sucht nach Familienanschluss. Rosa ist überfordert. Zumal ihr Vater jetzt auch noch mit ungebremster Begeisterung Grossvaterpflichten übernehmen will.
Und dann ist da der Thallinger Sägereibesitzer Charles Mulliger (Ueli Jäggi), sowas wie der einzige Arbeitgeber weit und breit, ein klassischer Patron und schrecklicher Patriarch. Seinen Sohn (Pascal Ulli) stösst er schon fast mit Shakespearscher Wucht von sich. Und was ist mit seinem eigenen Vater, dessen Büste er in Folge eins angeekelt mit dem Gesicht zur Wand kehrt?
Matti und Jäggi sind zwei vorzügliche Schauspieler, denen man fasziniert zuschaut. Matti braucht minimale Mimik, um die Grenze zwischen Grossvater und Mörder unheimlich verschwimmen zu lassen. In Jäggis Zügen liegen die Cholerik eines Despoten im Kampf mit geheimnisvoller Güte und Melancholie.
Mindestens die Hälfte der ermittelnden Polizeiorgane hat Sex. Tiptoppen hetero- und homosexuellen Sex, bei dem wir gerne zuschauen. Eines der Sexobjekte wäre in einem gewöhnlicheren Serienunternehmen als «Wilder» garantiert mit Carlos Leal besetzt worden. Jetzt wird es von ... sorry, genug gesagt. Auf jeden Fall hoch erfreulich, dieser Nicht-Leal.
Die zweite Staffel «Wilder» läuft ab dem 7. Januar jeweils dienstags um 20.05 Uhr auf SRF1.
Die erste Staffel ist noch bis zum 28. Januar unter diesem Link zu sehen.
Sarah Spale ist – ebenfalls unter der Regie von Pierre Monnard – ab dem 16. Januar auch in «Platzspitzbaby» im Kino zu sehen.
Kägis Berndeutsch ist sowas, nämlich sowas von sexy!