Der Hunger ist noch nicht besiegt. Nachdem seit 2004 sowohl die absolute Anzahl der Hungernden weltweit als auch ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung stetig gesunken war, weisen beide Kurven seit 2015 wieder nach oben. 2021 hungerten bis zu 828 Millionen Menschen; jeder zehnte Mensch leidet unter chronischem Hunger, das heisst an dauerhafter Unterernährung. In die Medien gelangt das Thema dagegen eher selten, meist nur bei akuten, lokal begrenzten Hungerkrisen.
Die meisten Experten sind sich einig: Der Hunger ist in allererster Linie nicht ein Problem der Lebensmittelproduktion, sondern der Verteilung. Ein Hinweis darauf ist nur schon die Tatsache, dass laut Zahlen der UNO aus dem Jahr 2013 jedes Jahr 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel nicht konsumiert werden – damit könnte man viermal mehr Menschen mit Nahrung versorgen, als es Hungernde auf der Welt gibt.
Die Ursachen des Hungers sind zu einem grossen Teil menschengemacht. Hier eine Zusammenstellung der wichtigsten Faktoren – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Die Entwicklungsländer erhielten während Jahrzehnten nur dann Kredite vom Internationalen Währungsfonds, wenn sie Devisen erwirtschafteten und Staatsausgaben kürzten. Zu diesem Zweck setzten viele dieser Staaten auf den Export von landwirtschaftlichen Produkten, die auf dem Weltmarkt gute Preise erzielten – sogenannte Marktfrüchte oder «Cash Crops». Dazu zählen etwa Kaffee, Kakao, Zucker, Erdnüsse oder Baumwolle.
Dies konkurrierte mit der lokalen Nahrungsmittelproduktion von Kleinbauern, deren Subsistenzkulturen zurückgingen, also jene landwirtschaftlichen Nutzpflanzen, die der Selbstversorgung dienen – Viehfutter und Grundnahrungsmittel. An deren Stelle traten billige Nahrungsmittelimporte. Damit waren die Entwicklungsländer dem Markt ausgeliefert: Wenn die Preise für die Importgüter anzogen und zugleich der Weltmarktpreis für die oft in Monokulturen angebauten Cash Crops einbrach, wirkte sich das verheerend aus.
Seit im Jahr 2000 die zuvor geltenden Beschränkungen für Terminmärkte (das sind Preiswetten) von den Regulierungsbehörden gelockert wurden, hat die Spekulation mit Nahrungsmitteln stark zugenommen. Mittlerweile können auch Banken und Fondsgesellschaften in diesem lukrativen Geschäft mitmischen. Dies ist nicht im Vorteil der Bevölkerung in den Entwicklungsländern, wie sich etwa in den Jahren 2007/2008 und 2011 zeigte, als die Weltmarktpreise für wichtige Grundnahrungsmittel wie Mais, Reis und Weizen förmlich explodierten, was weltweite Nahrungsmittelkrisen auslöste.
Für Spekulanten sind Ereignisse interessant, die den Preis für Nahrungsmittel nach oben treiben – etwa, wenn sich eine Dürre ankündigt. Die Spekulation verschärft dann die ohnehin drastischen Folgen der schlechten Ernte. Die Preise für Grundnahrungsmittel schiessen derart in die Höhe, dass diese als Importware auf den lokalen Märkten für die Armen, die naturgemäss keine Reserven bilden konnten, unerschwinglich werden. Auch die Spekulation mit Erdöl treibt die Nahrungsmittelpreise, da die industrielle Landwirtschaft nicht ohne Kunstdünger und synthetische Spritzmittel auskommt.
Die real bestehenden Machtungleichgewichte zwischen den Staaten führen dazu, dass die reichen Länder die Regeln der internationalen Politik bestimmen. Das Welthandelssystem benachteiligt die Kleinen, da Kleinbauern aus Entwicklungsländern mit internationalen Grosskonzernen konkurrieren müssen – ein Kampf mit ungleichen Spiessen.
Das Resultat sind unfaire Handelsabkommen, die den Markt in den Entwicklungsländern für Unternehmen aus Industrieländern öffnen. Subventionen verschaffen ihnen Preisvorteile. Viele Entwicklungsländer exportieren vornehmlich Rohstoffe, die Gewinne aber schöpfen die reichen Staaten ab.
Der Appetit auf Fleisch in den Industrienationen – und mittlerweile auch immer mehr in den Schwellenländern – fördert den Hunger in den armen Ländern. Das liegt daran, dass die Fleischproduktion teuer ist und viele Ressourcen verbraucht, die anderswo fehlen. So sind für die Produktion eines einzigen Steaks enorme Mengen Wasser notwendig – Wasser, das in manchen Gegenden Mangelware ist. Der Mechanismus ist also indirekt: Hunger wird durch die erhöhten Preise und den Verbrauch von knappem Land und Wasser gefördert.
Eine wichtige Rolle spielt dabei die Umnutzung von landwirtschaftlichen Nutzflächen für den Anbau von Viehfutter. Heute wandert bereits ein Drittel der weltweiten Getreideproduktion in Tiermägen, um Fleisch und Milchprodukte herzustellen. 2011 landete 77 Prozent allen grobkörnigen Getreides und über 90 Prozent des gesamten Sojas in Futtertrögen. Allein die Schweiz importiert jährlich eine Million Tonnen Futtermittel.
Krieg und Hunger gingen schon immer Hand in Hand. Heute kann ein Krieg wie der Ukrainekrieg in Europa in einer Welt der verflochtenen Wirtschaftsbeziehungen weltweit zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise führen. Kriege führen aber auch ganz direkt zu Hunger: Wenn etwa Hunger als Waffe eingesetzt wird und Soldaten Felder abbrennen und Vieh töten. Wenn Menschen von dem Land fliehen müssen, von dem sie sich ernährt haben, und ihre Felder nicht mehr bestellen können. Oder wenn die landwirtschaftliche Infrastruktur, etwa Bewässerungsanlagen, durch Kampfhandlungen zerstört werden.
Fatale Auswirkungen hat es auch, wenn Strassen zerstört oder gesperrt werden und Nahrungsmittel nicht mehr dorthin transportiert werden können, wo man sie braucht oder verkauft. Die prekäre Sicherheitslage in einem Kriegsgebiet führt zudem dazu, dass der Handel abnimmt und Nahrungsmittel dadurch rar und teuer werden.
Biosprit ist Treibstoff, der aus Biomasse hergestellt wird. Bioethanol und Biodiesel werden etwa für den Verkehr, Palmöl als Biobrennstoff für Kraftwerke zur Erzeugung von elektrischem Strom und Heizwärme eingesetzt. Der Vorteil dieser Biokraftstoffe liegt darin, dass sie CO2-arm sind – doch sie haben fatale Nebenwirkungen.
Das liegt zum einen daran, dass der Anbau von Feldpflanzen für Biosprit dazu führt, dass Nutzflächen für die Nahrungsmittelproduktion verloren gehen. Zum andern werden Pflanzen, die als Nahrungsmittel dienen könnten, zur Energiegewinnung verwendet. Die enorme Maisproduktion der USA dient mittlerweile der Gewinnung von Ethanol. In Brasilien und Indonesien werden nicht nur riesige Landflächen für die Produktion von Soja und Palmöl genutzt und natürliche Ökosysteme zerstört, sondern auch zusätzliche Flächen durch die Abholzung von Regenwald gewonnen.
Die Klimaerwärmung erhöht für Menschen, die bereits jetzt von Hunger betroffen sind, die Risiken enorm. Sie hat bereits dazu geführt, dass sich die Niederschläge in weiten Gebieten des Mittelmeerraums, des Mittleren Ostens, der Sahelzone, des südlichen Afrikas und in Teilen Südasiens sowie Südamerikas verringert haben. Der globale Flächenanteil von wasserarmen Regionen dürfte in Zukunft noch stark zunehmen. Afrika leidet besonders; die globale Erwärmung droht Teile des Kontinents unbewohnbar zu machen.
Auf der anderen Seite nehmen Wetterextreme wie Tropenstürme, Starkniederschläge, Überschwemmungen, Dürren und Hitzewellen zu. Sie haben seit jeher zu Hungerkrisen geführt; sowohl ein Zuviel wie ein Zuwenig an Wasser führen zu Ernteausfall und damit zu Hunger. Ernteausfälle in mehreren Jahren hintereinander führen auch dazu, dass die Bauern ihre Vorräte an Saatgut aufbrauchen oder ihr Vieh schlachten müssen.
Eines der grössten Entwicklungshemmnisse ist die Korruption in vielen Entwicklungsländern. Ihre Regierungen versäumen es oft, eine Politik zu verfolgen, die ihre Erfolge an den Bedürfnissen der Ärmsten misst. Nicht selten bereichert sich die politische Elite selbst, statt Gewinne – etwa aus Rohstoffexporten – in die Wirtschaft oder die Infrastruktur zu investieren. Solche korrupten Eliten können auch viel leichter von internationalen Grosskonzernen für deren Zwecke instrumentalisiert werden.
Schlechte Regierungsführung (Bad Governance) verhindert oft auch, dass Bildung und Forschung vorangetrieben werden und Innovationen wie etwa neue Pflanzensorten zu den Bauern gelangen. Regierungen, die nur das Wohl einer schmalen Elite oder des eigenen Clans im Auge haben, sind zudem kaum daran interessiert, Abholzungen, Landraub und Vertreibungen von Kleinbauern zu verhindern.
Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich sowohl global als auch in den einzelnen Ländern. In Entwicklungsländern ist die Ungleichheit oft besonders extrem – unfassbarer Reichtum prallt auf schreiende Armut. Während nur gerade ein Prozent der Weltbevölkerung beinahe die Hälfte des Weltvermögens besitzt, hat eine Milliarde von Armen und Hungernden nahezu keine Chance, sich jemals aus der Armut zu befreien.
Und wer arm ist, gibt die Armut oft weiter. Arme haben nicht nur wenig Geld zum Essen, sie haben auch nicht genug Geld, um für die Gesundheit und Bildung der Kinder – besonders der Mädchen – zu sorgen. Nur wenigen gelingt es, aus diesem Teufelskreis von Armut und mangelnder Bildung auszubrechen.