Roger Federer weinte bitterlich, neben ihm auf der Bank sass Rafael Nadal, dem ebenfalls die Tränen übers Gesicht liefen. Und ich weinte vor dem Bildschirm mit. Sie hatten gerade den allerletzten Tennismatch in Federers Karriere bestritten. Oder heisst es Turnier, Spiel, Wettbewerb? Ich weiss es nicht, denn, um ehrlich zu sein, hatte ich noch nie zuvor – und auch nie mehr danach – Tennis geschaut. Aber an diesem Abend im September 2022 wusste ich: Hier passiert etwas Einmaliges, hier will ich dabei sein.
Knapp zwei Jahre später sitze ich wieder vor dem Fernseher. Was heisst da sitzen, ich stehe förmlich davor. Denn Nemo ist gerade dabei, das Unmögliche zu schaffen: den ESC für die Schweiz zu gewinnen. Als ein Land nach dem anderen der Schweiz 12 Punkte vergibt, dämmert mir, dass sich in wenigen Momenten Historisches ereignen könnte. Und ich bin live mit dabei.
Als Nemo den ESC-Sieg holt, bin ich eine von 800’000 Personen in der Schweiz, die zuschauen. Dass alle diese Menschen zur selben Zeit das Gleiche sehen, hören und, ja, erleben wie ich, gibt mir ein seltsames Gefühl der Zugehörigkeit.
Dabei wäre es natürlich ein Leichtes, diese Sendungen irgendwann später nachzuschauen. Aber es ist gerade die Verbindlichkeit des Fernseh-Ereignisses, die einen Teil seines Reizes ausmacht.
Oute ich mich heute als Fan des linearen Fernsehens, ernte ich von älteren und jüngeren Jahrgängen gleichermassen skeptische Blicke. Die Älteren finden es seltsam, dass etwas derart Normales, wenn nicht gar Biederes, plötzlich als bahnbrechende Wiederentdeckung gefeiert wird. Die Jüngeren, weil sie möglicherweise nie die Magie des gemeinsamen Fernsehabends erlebt haben.
Und auch die Zahlen zeigen, dass die Fernsehnutzung in den vergangenen 30 Jahren zurückgegangen ist, besonders drastisch in der Gruppe der 15- bis 29-Jährigen.
Doch um mich herum verdichten sich seit einigen Jahren die Zeichen, dass ich mit meiner wiederentdeckten Freude am Fernsehen nicht alleine bin: WGs, die zusammen «Bachelor» schauen oder Beizen, die Public Viewings zum «Tatort» anbieten. Es scheint, als hätte nach dem anfänglichen Staunen über die unendlichen Möglichkeiten der Streaming-Welt wieder etwas anderes eingesetzt: die Lust am gleichzeitigen Fernsehschauen. Ob das Erlebnis nun «Bachelor» oder «Eurovision Song Contest» heisst, ist Nebensache.
Ja, Fernsehshows sind ein Geschäft, und ja, man könnte in dieser Zeit auch ein Buch lesen, rausgehen, Freunde treffen. Dennoch kommt das Fernsehen in Zeiten, in denen vieles von dem, was wir konsumieren – von der Werbung bis zu den Streaming-Vorschlägen – persönlich auf uns zugeschnitten ist, einem kleinen Protest gleich.
Denn grosse Fernsehereignisse sind heute eine der wenigen Gelegenheiten, in denen wir das Gleiche sehen und vor allem über das Gleiche reden. Wie, das steht auf einem anderen Blatt.
Dass Live funktioniert beweist SRF mit dem Sport jeden Tag und auch im Internet gibt es tonnenweise Livestreamer.
Aber dafür braucht es keinen linearen 24/7 Sender.
Vor Streaming hat man auf dem Pausenplatz diskutiert was man am Wochenende schauen möchte (ob man dan konnte oder durfte war etwas anderes) und danach bis ins kleinste Detail gefachsimpelt. Und diejenigen die den Film verpasst haben kannten ihn mindestens so gut, da jede Minute erzählt wurde 😄.
Für mich haben beide Konsumationsarten Vor- und Nachteile, ich bin und bleibe jedoch Non-Streamer.