Stürm türmt. Wieder und wieder und wieder. Zwischen 1974 und 1995 bricht der Industriellensohn Walter Stürm aus Goldach acht Mal aus Gefängnissen und Zuchthäusern aus. Seine Vergehen sind: Diebstähle, ein Banküberfall, bandenmässiger Raub, der Verkauf von geklauten Autos, eine misslungene Geiselnahme. 1981 bricht er aus der Strafanstalt Regensdorf aus und hinterlässt einen Zettel, der die ganze Nation amüsiert: «Bin beim Ostereier suchen, Stürm.»
Damals ist er ein Popstar für die Zürcher Jugendbewegung. Sie sieht in ihm einen virtuosen Anarchisten. Dabei ist nichts an Stürms Leben politisch motiviert: Er hat Spass an schönen Dingen, vornehmlich Autos, er ist von einem riesigen Spieltrieb beseelt, der sich in den Verbrechen und Fluchten sehr kreativ austobt – und von einem Freiheitstrieb, auf den sich natürlich ideologisch so manches projizieren lässt. Gebrochen wird er schliesslich von der Isolationshaft: Im Kantonalgefängnis Frauenfeld erstickt er sich 1999 mit einem Plastiksack. Er ist 57 Jahre alt.
Er hinterlässt eine langjährige Weggefährtin: seine Anwältin Barbara Hug. Sie wird Stürm um sechs Jahre überleben. Er war ihr längster und grösster Fall. Ein anderer war Harald Naegeli, der Sprayer von Zürich. Als sie 2005 stirbt, schreibt die NZZ: «Legendär ist Barbara Hugs Charakterisierung, die einem Gerichtsschreiber in den Mund gelegt wird: Sie sei eine Mischung aus Rosa Luxemburg und Mutter Teresa. Dieses Zusammenspiel von politischem Engagement und sozialem Helfersyndrom trieb die pointiert linke Rechtsanwältin an, führte manchmal aber auch zu einer schwer nachvollziehbaren Vorgehensweise.»
Im Film «Stürm – Bis wir tot sind oder frei», quasi der Schweizer Version von «Catch Me if You Can», spielt Marie Leuenberger Barbara Hug. Dabei stiehlt sie Joel Basman als Stürm mit Selbstverständlichkeit und einer lodernden physischen Präsenz die Show.
Marie Leuenberger, Sie leben in Berlin und arbeiten vorwiegend in Deutschland. Trotzdem sind Sie in den letzten Jahren zur Fachfrau für die jüngere Schweizer Geschichte geworden. Für die Einführung des Frauenstimmrechts 1971 in «Die göttliche Ordnung». Und jetzt für die 80er- und 90er-Jahre in «Stürm».
Das ist doch interessant! Da scheint eine Aufarbeitung der Geschichte über das Kino stattzufinden. Und ich bin zufälligerweise ein Teil davon geworden. Ich lerne viel über die Schweiz bei meiner Arbeit und bin froh, dass sich vieles zum Besseren entwickelt hat. Dazu gehört auch die Fichenaffäre in «Moskau einfach». Über die Zeit um die Einführung des Frauenstimmrechts wusste ich ein wenig Bescheid, aber Stürm lernte ich erst über das Drehbuch kennen. Und von Barbara Hug weiss man praktisch nichts, weil sie sich nie ins Rampenlicht gestellt hat. Sie hat zwar das Justizsystem verbessert, nahm sich aber als Person nie wichtig.
Sie sagten einmal in einem Interview in der «annabelle», dass sie versuchen, sich Ihre Rollen als Tiere vorzustellen. Und dass Sie für die Nora in «Die göttliche Ordnung» keines gefunden hätten, weil Nora für Sie eine Pflanze darstellte. Was war Barbara Hug für Sie?
Ich habe mich auf Barbara mit einer anderen Methode vorbereitet. Aber sie hätte für mich gut ein Dinosaurier sein können. Ein Tyrannosaurus Rex mit kurzen Ärmchen, nicht besonders sportlich, aber ein aggressiver Jäger.
Stürms Geschichte ist ein Spektakel, hat Glamour und Tempo, gleicht selbst einem Autorennen, ist von ihrer Natur her eine Steilvorlage für einen Film. Barbara Hugs Geschichte ist eine andere: Ihre Alltagskulisse sind Anwaltsbüros und Gerichtsgebäude und eine Beeinträchtigung, die ihr Leben in allem bremst. Als Kind wurde bei ihr ein Tumor diagnostiziert, die Operation und die zu hoch dosierte Bestrahlung lassen sie ein Leben lang beschädigt zurück, sie muss regelmässig zur Dialyse und ist schmerzmittelabhängig. Ihr Körper ist ihr Gefängnis. Der Einsatz für die Freiheit anderer immer auch ihre eigene Befreiung.
Wie sind Sie die körperliche Beeinträchtigung von Barbara Hug angegangen?
Es ist erstaunlich, welche Fantasien der eigene Körper zu Begriffen wie Schmerz, Krankheit, Morphium entwickelt. Ich besuchte einen Schauspielcoach, der mich aufforderte, als Barbara Hug meine Beziehungen zu den anderen Figuren über den Körper zu definieren. Die Körperfantasie die ich zum Beispiel als Barbara «meiner» Mutter entgegenbrachte, war, dass die Mutter ein riesiger Klotz an meinem Bein ist. Ich stellte mir vor, dass sich die Mutter an meinem Knöchel festkrallt und bei jedem Schritt an mir dranhängt. Die Mutter verhält sich Barbara gegenüber wie ein Kind, das sich nicht helfen kann, aber auch nicht helfen lassen will. Wenn ich Mutter-Tochter-Szenen spielte, hatte ich immer diesen Klotz am Bein im Kopf, meine Haltung wurde schief, etwas zog mich nieder.
Das klingt, als gäbe es einfachere Zugänge zu einer Figur.
Einfach ist sowas nicht, bequem schon gar nicht. Aber ich liebe diese Reisen in meine Figuren hinein. Und Barbara ist eine einzigartige Figur. Sie steht ganz für sich, ist eine Frauenrolle, die ohne jeden Bezug zu Familie oder einem Ehemann auskommt. Sie ist niemandem Rechenschaft schuldig, muss für niemanden kochen oder rechtzeitig zuhause sein, sie ist eine einsame Wölfin, die durchs Land streicht. Ihr Rauchen, Trinken, Stolpern, Fauchen und Fluchen ist alles sehr unweiblich.
Wozu ja auch die Maske beiträgt.
Jeden Tag wurde mir unreine Haut geschminkt, die Falten wurden verstärkt, die Haare fettig gemacht. Barbara Hug ist auch keine modische Frau, weiblich gesehen versagt sie quasi auf allen Ebenen. Ich dachte: Okay, und sowas wollen die Leute dann sehen? Ich kann in «Stürm» nicht mit Schönheit glänzen, ich kann nur spielen. Daraus wurde dann: Spielen wie ein Mann. Und das war plötzlich eine ganz grosse Freiheit. Was wirklich, wirklich toll ist, es muss mehr solche Rolle geben! Ich muss dazu sagen: Das Drehbuch wurde von vier Männern (neben Rhis und Madeo auch von Oliver Keidel und Dave Tucker) geschrieben. Sie haben diese Frauenrolle geboren.
Wenn Männer wollen, können sie sowas schon.
Ja!
Und wie werden Sie so eine Figur wieder los?
Ich brauchte ein Ritual, um mich von einer wie Barbara zu verabschieden. Ich muss mich von ihr lossagen können, sie muss sterben dürfen, damit ich wieder Marie sein kann.
Im Film werden die Leben von Hug und Stürm eng miteinander verflochten und zur Geschichte einer gegenseitigen Faszination. Vieles davon ist der Realität höchstens nachempfunden oder gar erfunden, die Eckdaten von Stürms Ausbrecherlaufbahn stimmen natürlich, aber das Beziehungsfleisch am Erzählknochen ist weitgehend Fiktion. Stürm hat Hug nie heimlich Rosen und ein geklautes Collier vorbeigebracht, aber möglich wärs! Für andere Frauen hat er dies nämlich tatsächlich gemacht. Und Hug hat Stürm auch nicht bei befreundeten RAF-Aktivisten in einer alten Nazivilla in Deutschland untergebracht, wo er den gut gefüllten Safe der Villa knackte. Aber das Zürcher Anwaltskollektiv, in dem sie lange tätig war, vertrat tatsächlich auch Mitglieder der RAF.
Der Film von Regisseur Oliver Rhis und Drehbuchautor (und Produzent) Ivan Madeo ist viel – charmant, rasant, äusserst unterhaltsam, zeigt das Blendwerk eines Mannes, der sich in einem fort verwandelte, ein Betrüger mit Dutzenden von Pässen, Perücken und Existenzen. Und der von einer Frau gemacht wurde. Im Film noch etwas mehr als in Wirklichkeit, aber auch da war es Barbara Hug gewesen, die bewusst Stürms Image als Schweizer Robin Hood gepflegt und propagiert hatte. Im Film wird sie zum weiblichen Pygmalion, die aus dem Material, was er zu bieten hat, ein Idol formt.
Barbara Hug macht Stürm zum Star.
Sie benutzt seine Geschichte, weil seine Wirkung auf die Öffentlichkeit so gross ist. Obwohl er die ursprünglich gar nicht haben wollte, er handelte total egoman und interesselos, ihm ging es um ein Lebensgefühl, er wollte nichts verändern in der Welt. Im Gegensatz zu Barbara Hug. Da kommen zwei Aussenseiter zusammen, und beiden bedeutet Freiheit – auf ganz unterschiedliche Art – sehr viel. Er will seine Freiheit, sie will die der anderen. Er kämpft gegen das Gesetz, sie mit dem Gesetz im Rücken.
Wie betrachten Sie selbst Barbara Hug? Bewundernd oder kritisch?
Ich empfinde es als eine grosse Herausforderung, eine Person zu spielen, die es wirklich gibt. Wir haben diesen Film «nach wahren Begebenheiten» gedreht, aber es ist und bleibt eine fiktive Geschichte. Und Barbara Hug war in Wirklichkeit wohl sehr viel sozialer und wärmer als im Film, das habe ich nach Gesprächen mit Weggefährten gemerkt. Aber dann muss ich mir als Schauspielerin auch einfach sagen: Ich kann nicht allen gerecht werden. Ich spiele, was mir das Drehbuch anbietet. Und dieses Drehbuch ist wahnsinnig schön, berührend und detailreich und leidenschaftlich geschrieben.
Das merkt man auch. Ich liebe euren Film. Er hat so viel Energie, Erzählfreude, gute Dialoge und macht Spass.
Ja! Das geht mir auch so. Ich glaube, ich konnte noch nie von einem meiner Filme so überzeugt sagen: Ich finde den richtig gut! Ich liebe Filme, von denen man abgeholt wird, aber gleichzeitig hat er eine Message, und danach kann man über Freiheit, Liebe, Abgrenzung und Rechtsstaat philosophieren …
Was ist Freiheit für Sie?
Seit Corona ist das vielleicht deutlicher als vorher. In Deutschland war es ja noch krasser als in der Schweiz, da wurden Freiheitsrechte mit Dingen wie Ausgehverbot und Reiseverbot beträchtlich eingeschränkt. Innerhalb Deutschlands durfte man eine Weile lang ja nur ins nächste Bundesland reisen, auf die Schweiz übersetzt würde das bedeuten, dass man nicht mehr von Zürich nach Luzern fahren dürfte. Ich stimme Willy Brandt zu, der sagte, neben Frieden sei Freiheit für ihn das Wichtigste.
Der Dreh zu «Stürm» war vor Corona bereits abgeschlossen. Hatten Sie beim Ausbruch der Pandemie das Gefühl, jetzt vom Film heimgesucht zu werden?
Nicht heimgesucht, das nicht. Aber ich begann zu verstehen, wie sich Stürm in der Isolationshaft gefühlt haben musste. Ich sass in Berlin mit zwei Kindern in einer Wohnung ohne Balkon und Garten fest, das ist natürlich nicht zu vergleichen, aber ein minimales Gefühl von Freiheitsentzug hatte ich da schon. Stürm dagegen hatte in der Isolationshaft gar niemanden sehen und mit niemandem telefonieren können.
«Stürm – Bis wir tot sind oder frei» läuft ab dem 25. November im Kino.
Mehr davon. Bitte. Danke.