Walter Stürm hatte genug. Genug vom Leben auf der schiefen Bahn, das ihn immer wieder ins Gefängnis brachte, aus dem er achtmal getürmt war. Am 13. September 1999 stülpte der 57-Jährige in der Untersuchungshaft in Frauenfeld einen Kehrichtsack über seinen Kopf. Damit endete das Leben eines Mannes, der als «Ausbrecherkönig» zum bekanntesten Kriminellen der Schweiz wurde.
20 Jahre nach seinem Suizid bleibt Walter Stürm eine ebenso faszinierende wie zwiespältige Figur. Derzeit wird ein Spielfilm über ihn gedreht, der nächstes Jahr in die Kinos kommen soll. Die Titelrolle spielt Joel Basman, der gefragteste Schauspieler des Landes. Wie aber wurde aus einem Berufsverbrecher ein Medienstar – und eine Kultfigur der Linken?
Im Gegensatz zu manchen notorischen Straftätern stammte der 1942 geborene Stürm nicht aus ärmlichen, zerrütteten Verhältnissen. Er wuchs in einer Unternehmerfamilie in Rorschach SG auf und machte eine Lehre als Karosseriespengler. Dabei entstand eine verhängnisvolle Schwäche für schnelle Autos. Er habe deswegen angefangen «zu delinquieren», sagte Stürm später.
Im Ausland klaute er Luxuswagen, die er in der Schweiz verkaufte, um sich mit dem Erlös seinen Traum von einem Formel-1-Boliden Marke Lotus zu erfüllen. Damit machte er sich verdächtig. 1964 wurde Stürm mit 22 Jahren vom Bezirksgericht St.Gallen zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von drei Jahren verurteilt. Kurz darauf brach er erstmals aus.
Sein weiterer Lebensweg war damit vorgezeichnet. Stürm spezialisierte sich auf Einbrüche und das Knacken von Tresoren. Es seien «paradiesische Zeiten für Räuber» gewesen, schrieb die NZZ. Alarmanlagen waren kaum verbreitet, und in vielen Firmen wurden die Löhne jeweils am Freitag in bar ausbezahlt. Entsprechend reiche Beute war in den Tresoren zu machen.
Walter Stürm aber wurde immer wieder geschnappt. Nach seinen wiederholten Ein- und Ausbrüchen kam er Ende der 1970er Jahre in Isolationshaft und wurde damit zu einer Symbolfigur für Linke. Es war eine Zeit des Umbruchs, in der die repressiven Methoden des Staates immer stärker in die Kritik gerieten. «Freiheit für Stürm», hiess es damals auf manchen Hauswänden.
Im Sommer 1980 forderten Prominente wie Regisseur Rolf Lyssy, SP-Nationalrätin Lilian Uchtenhagen und Schriftsteller Niklaus Meienberg einen «Haftunterbruch» für Stürm. Im Dezember 1980 kam es sogar zu einer Demonstration vor der Strafanstalt Regensdorf (heute Pöschwies). Ein paar Monate später gelang Stürm mit einem weiteren Ausbruch sein grösster Coup.
Am 13. April 1981, dem Montag vor Ostern, durchsägte er die Gitterstäbe seiner Zelle und türmte über die Gefängnismauer. Zurück liess er einen Zettel mit der Notiz: «Bin beim Ostereiersuchen, Stürm.» Darüber schmunzelten sogar Menschen, die sonst nichts übrig hatten für Kriminelle. Der Berufsverbrecher Walter Stürm wurde zu einer Art schrägem Volkshelden.
Es gilt als sicher, dass er bei seinem «Ostereier-Ausbruch» auf Helfer von aussen zählen konnte, vermutlich aus der Zürcher «Bewegung». Geklärt wurden die Hintergründe nie. Auf den Tag genau fünf Monate später wurde er in Frankreich geschnappt. Seine Idealisierung vorab von Linken zu einem Robin Hood und Gentleman-Gangster wirkt im Rückblick irritierend.
So war der Ostschweizer nicht so gewaltfrei, wie er sich gerne gab. Anders als er in einem Interview mit dem Magazin «Facts» von 1998 behauptete, war er bei seinen Raubzügen durchaus bewaffnet gewesen. Dies schrieb der Journalist Reto Kohler in einer Biografie, die fünf Jahre nach Stürms Tod erschien. Bei einem Banküberfall 1970 in Hinwil ZH wurde der Filialleiter erschossen. Stürm hatte nicht selber abgedrückt, war aber am Überfall beteiligt.
Vor allem aber interessierte sich Walter Stürm nicht für Politik. Es ging ihm ums Geld. Und die Frauen, die er mit teuren Geschenken verwöhnte. Der gut aussehende «Gentleman-Gangster» konnte Menschen mit seinem Charme bezirzen. Die Sympathien der Linken instrumentalisierte er für seinen Kampf gegen die Isolationshaft, die er als «Todesstrafe auf Raten» bezeichnete.
1987 und 1992 trat er in den Hungerstreik, auch unternahm er zwei Suizidversuche. Seine Eingaben und Beschwerden verfasste Stürm, der die Aussage gegenüber den Behörden konsequent verweigerte, häufig selber. 1996 gelang ihm sogar ein Erfolg vor dem Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg wegen einer zu langen Untersuchungshaft im Wallis.
Zweimal noch gelang ihm eine spektakuläre Flucht. Im Februar 1988 haute er ab, als er zwecks Physiotherapie ins Universitätsspital Zürich begleitet wurde. Dabei hatte er dem damaligen Pöschwies-Direktor sein Ehrenwort gegeben, nicht mehr ausreissen zu wollen. Immerhin 16 Monate dauerte sein Leben in Freiheit, dann wurde er auf der Kanaren-Insel Gomera gefasst.
Der letzte von acht erfolgreichen Fluchtversuchen gelang Stürm 1995, als er von einem Hafturlaub nicht in die Strafanstalt Bochuz zurückkehrte. «Nach sechs Jahren Isolationshaft war ich am Ende», sagte er im «Facts»-Interview. Frei bekommen hatte er sinnigerweise für einen Prozess gegen einen «Blick»-Journalisten wegen Ehrverletzung. Er hatte Stürm als Bankräuber bezeichnet.
Nach vier Monaten wurde er im Elsass verhaftet. Im Oktober 1998 verliess Walter Stürm das Gefängnis erstmals seit fast 30 Jahren auf reguläre Weise. Die Welt aber hatte sich verändert. In den 90er Jahren hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Stürm kein Justizopfer, sondern ein gewöhnlicher Krimineller war. Manche schämten sich für ihre einstige Schwärmerei.
Die letzte Verhaftung erfolgte im März 1999 wegen eines Banküberfalls in Horn TG, den Stürm mit dem Schwerverbrecher Hugo Portmann begangen haben soll. Niemand setzte sich für ihn ein, obwohl die Umstände in diesem Fall dubios waren. So soll Stürm gesundheitlich angeschlagen gewesen sein, unter Rückenschmerzen und Gleichgewichtsstörungen gelitten haben.
Sechs Monate später setzte Walter Stürm seinem Leben ein Ende, auf die gleiche Weise wie sechs Jahre zuvor Niklaus Meienberg, der Stürms «Freiheitsdurst» bewundert hatte. Für den Biografen Reto Kohler, der Stürm nicht persönlich kannte, war er «ein enormer Egoist», dem jegliche Reue gefehlt habe, wie er in einem Interview mit dem «Tagblatt der Stadt Zürich» erklärte.
Ein Exemplar schaffte es regelmässig, aus dem Gehege auszubrechen. Die Ausbrecherei brachte der Schildkröte den Namen "Stürm" ein.
Heute ist das Gehege ausbruchsicher.