Ein Junge ersticht ein Mädchen. Sie stirbt. Stephen Graham liest darüber in der Zeitung. Wenige Tage später sieht er in der Tagesschau, dass schon wieder ein Junge ein Mädchen erstochen hat. «Es geschah an den entgegengesetzten Enden von England. Es hat mir das Herz gebrochen. Und ich fragte mich: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich, wenn Buben Mädchen ein Messer in den Leib rammen?»
Stephen Graham wird immer ernster, als er dies vor wenigen Tagen in der Show von Jimmy Fallon sagt, gerade hat er eine lustige Anekdote über sich und Leonardo DiCaprio beim Dreh von «Gangs of New York» erzählt, jetzt geht es um die Entstehungsgeschichte seines Vierteilers «Adolescence» und Tränen stehen ihm in den Augen: «Es gibt doch dieses schöne Sprichwort: Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen.» Dann dreht er das Sprichwort um, verkehrt die Verantwortung des Dorfes in dessen Schuld: «Was, wenn wir für eine solche Tat alle zur Rechenschaft gezogen werden sollten? Das Bildungssystem, die Eltern, die Gemeinden, die Regierung?»
«Als wir Kinder waren, hatten wir keine sozialen Medien», fährt er fort, «Wenn ich nicht draussen war, sondern allein in meinem Zimmer, zeichnete ich oder spielte Keyboard oder irgendwas, aber wir hatten keinen Zugang zur ganzen Welt und all diesen Dingen, die ein Kind so sehr beeinflussen könnten. Ich will keinem einzelnen die Schuld geben, ich denke, wir sollten gemeinsam zur Rechenschaft gezogen werden. Ein schweres Thema, aber wir müssen uns darum kümmern.»
Stephen Graham hat sich darum gekümmert. Er kontaktierte den Drehbuchautor Jack Thorne und gemeinsam schrieben sie «Adolescence», das britische Netflix-Drama über den herzigen, vermeintlich behütet aufwachsenden, 13-jährigen Jamie Miller, der eines Tages ein Mädchen ersticht, weil er im Internet zu viel geistigem Gift ausgesetzt war und niemand hinschaute.
Seither schlafen Eltern schlecht, weil sie sich fragen, was wenn das mein Kind wäre? Kenne ich mein Kind überhaupt? Britinnen und Briten verlangen nach sofortigen Schulreformen. Weltweit fragt man sich, ob ein Social-Media-Verbot für Minderjährige wie in Australien nicht sein Gutes hätte. Die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen scheint unausweichlich. Wer «Adolescence» gesehen hat, fühlt sich durchgeschüttelt und mal wieder so richtig desillusioniert. Willkommen im drastischen sozialen Realismus, wie er in Grossbritannien grosse Tradition hat.
Doch wer ist der Mann dahinter? Stephen Graham ist ein aus der Arbeiterschicht stammender Schauspieler, der seit vielen Jahren Arbeiterschichts-Figuren spielt, den Polizisten («Line of Duty»), den Gefängniswärter («Time»), den Koch («Boiling Point»), den Boxer («A Thousand Blows»), den Gewerkschafter («The Irishman», «Peaky Blinder»). Und immer wieder Gesetzesbrecher – einen Rechtsradikaler («This Is England»), einen Dieb («Gangs of New York»), einen Bankräuber («Public Enemies»), Al Capone («Boardwalk Empire»). Menschen von unten. Menschen ohne grosse Perspektiven, aber mit Muskeln, Colts und Fäusten. Männer unter Hochdruck. Und Männer, die immer öfter, die Welt in der sie leben, nicht mehr verstehen.
So wie Jamie Millers Vater Eddie in «Adolescence». Das Familienmodell ist klassisch, Eddie, ein Spengler, arbeitet viel und hat wenig Zeit für seine Kinder, seine Gattin Manda ist dafür Hausfrau und Mutter, die Tochter ist gut geraten, aber über die virtuellen Höllen, in denen Jamie sich bewegt, herrscht «blissful ignorance», wie es auf Englisch so schön heisst, glückselige Unwissenheit.
Stephen Graham ist 51, Jack Thorne 46, Regisseur Philipp Barantini, der mit Graham bereits «Boiling Point» gedreht hat, 44. Drei Männer, drei Väter auch, die nicht als digital natives aufgewachsen sind und das Generationenproblem, das «Adolescence» auf so erschütternde Art aufreisst, selbst kennen und fürchten. Der einzige, der den Erwachsenen den Weg in die gefährliche Online-Welt der Kinder weisen kann, ist selbst ein Kind, der Sohn des ermittelnden Polizisten nämlich, der seinem Vater eine Nachhilfestunde im Emoji-Verstehen gibt.
Aufgewachsen ist Graham in einer unschuldigeren Zeit in der Kleinstadt Kirkby neben Liverpool, seine Mutter war Sozialarbeiterin, der Stiefvater ein Automechaniker, der sich zum Kinderkrankenpfleger umschulen liess. Sein Grossvater väterlicherseits war Jamaikaner, sein biologischer Vater und sein Stiefvater ebenfalls schwarz, Graham war zwar hellhäutiger als seine Brüder, wurde in der Schule jedoch als «der kleine Affen-Junge» verhöhnt – und prügelte sich. Die Körperkraft war immer auf seiner Seite.
Als Teenager spielte er viel Theater, war ein genialer Imitator von Menschen und ihren Dialekten, dann ging er nach London, um Karriere zu machen, und scheiterte. Nicht beruflich, da ging es mit kleinen Schritten und kleinen Rollen stetig vorwärts, aber psychisch. Er vermisste seine Eltern, die er über alles liebte, fürchterlich. Er steigerte sich zu sehr ins amerikanische Method Acting (das in England eigentlich verpönt ist) und versuchte dabei, seine Rollen so authentisch wie irgendwie möglich zu seiner Realität werden zu lassen. Beides führte im Alter von zwanzig Jahren zu schweren Depressionen und einem Zusammenbruch, Graham versuchte sich zu erhängen, schon hörte er, wie seine tote Grossmutter ihn ins Jenseits hinüber rief, da riss das Seil.
Mitte zwanzig erkannte er, dass die Schauspielerin Hannah Walters, die er seit der Schauspielschule kannte, nicht nur seine beste Freundin, sondern die Liebe seines Lebens war. Zum Glück war er auch ihre. Seit bald drei Jahrzehnten sind die beiden nun zusammen. Er wäre als schwer beeinträchtigter Legastheniker, ohne ihre Hilfe unfähig, ein Drehbuch zu lesen oder eine Rolle auswendig zu lernen, und 2020 haben die beiden ihre Produktionsfirma Matriarch Productions gegründet.
Es sei, schreiben sie, «eine dringend benötigte Plattform für unterrepräsentierte Stimmen und Geschichten im Vereinigten Königreich. Die Organisation setzt sich für Vielfalt und Inklusion in der Unterhaltungsbranche ein.»
Und sie sind Eltern von zwei Kindern und immer mal wieder Ersatz- oder Teilzeiteltern von jungen Leuten, mit denen Graham gerade einen Film oder eine Serie gedreht hat und die auf der Suche nach familiärer Wärme sind. Jodie Comer («Killing Eve») gehört dazu, oder Thomas Turgoose, der neben Graham in «This Is England» gespielt hatte und kurz nach dem Dreh seine krebskranke Mutter verlor. Graham bot ihm an, ihn zu adoptieren, falls Turgoose mit seinem entfremdeten Vater nicht auskommen sollte.
Stephen Graham ist ein Mann mit einem Gewissen, einem Kompass und einem riesigen Vorrat an Mitgefühl. Ein klarer Mann. Es gibt Ungerechtigkeiten, die nicht sein dürfen, und Schutzbefohlene, die beschützt werden müssen. «Würde ich mit einem Schauspieler am Set sein, der frauenfeindlich, rassistisch oder homophob ist?», fragte er im «Indpendent»: «Nein, ich würde ihm eine schallende Ohrfeige verpassen.»
Und er ist wohl einer der einzigen Menschen, die im Fernsehen und im Fernsehschaffen etwas uneingeschränkt Gutes sehen: «Ich nehme gerne Projekte in Angriff, die ein soziales Gewissen haben», sagte er im gleichen Interview, «der Fernseher ist die Empathie-Kiste in der Wohnzimmerecke. Ich mag es, Teil von Dingen zu sein, die Debatten und Diskussionen auslösen, die der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten können.» Mit «Adolescence» hat er das geschafft.
Er hat an der Seite der Grössten seiner Branchen kleinere Rollen gespielt – war neben Brad Pitt in «Snatch», neben Leonardo DiCaprio in «Gangs of New York», neben Robert De Niro in «The Irishman», neben Johnny Depp in «Pirates of the Caribbean». Alle sind seine Freunde geblieben. Er habe sie ganz einfach als Kollegen kennengelernt, die kein Bedürfnis gehabt hätten, irgendein Ego zur Schau zu stellen, sagt er, sondern einfach reden wollten, über das Leben, über die Schauspielerei, über die Gesellschaft. Brad Pitt ist jetzt Executive Producer von «Adolescence».
Wieso sie Graham die Treue halten? Weil er in allem ein anständiger Mensch ist: «Meine Mutter hat immer zu mir gesagt: Manieren kosten nichts. It's nice to be nice.»