«Jetzt spinnst du komplett!», dachte ich, als mich ein guter Freund vor geraumer Zeit fragte, ob ich mit ihm den Engadiner Skimarathon absolviere.
Marathon = 42 Kilometer.
Unsere Kenntnisse: Zero.
Statt Vorwissen hatte ich schöne Vorurteile. Kann ja nicht so schwierig sein, dachte ich, nachdem ich ein paar Stunden bei YouTube «recherchiert» hatte.
Langlauf = Sportart, a) für Senioren Menschen fortgeschrittenen Alters, denen Skifahren zu schnell wird, und b) für fanatische Konditionstiere, die nichts mit Bällen und anderem Spielgerät anzufangen wissen.
Zwar stösst man bei Internet-Recherchen schnell mal auf spektakuläre Stürze (insbesondere vom berüchtigten Stazerwald). Mich beruhigten aber die Instruktions-Videos, die das Langlaufen kinderleicht erscheinen lassen. Elegant gleitet man durch verschneite Wälder ...
Nun gut, ich willigte in das Abenteuer «Engadiner» ein und war froh, dass sich ein weiterer Freund anschloss. Der Name für unsere WhatsApp-Gruppe war schnell gefunden:
Womit wir bei den guten und schmerzhaften Erfahrungen sind, die ich als Langlauf-Anfänger am und um den 51. Engadin Skimarathon sammeln «durfte».
Am 15. Januar 2019 stand ich zum ersten Mal auf den dünnen Brettern. Da waren noch knapp zwei Monate Zeit.
Es war kein Start nach Mass.
Die «Gehversuche» im herrlich verschneiten Zürcher Oberland frustrierten mich dermassen, dass ich die Langlaufskis am Liebsten in der Mulde entsorgt hätte.
Doch die Ausrüstung war gemietet. Und so kam es, dass ich nicht die Stöcke hinwarf, sondern mit einem meiner Mitstreiter einen radikalen Systemwechsel wagte:
Klassisch statt Skating.
Das sollte sich als grundsätzlich goldrichtiger Entscheid herausstellen – und als schweres Handicap am «Engadiner», was wir damals natürlich noch nicht ahnten.
Losgelöst vom Langlauf-Stil kann ich bestätigen, was mir verschiedene Langlauf-Kenner geraten haben: Wer damit anfängt, sollte wenn möglich Unterricht nehmen. Bei der Ausrüstung kann man kaum etwas falsch machen, bei der Technik schon. Jede Lektion macht sich bezahlt.
Sicher ist auch, dass bei den Rookies die Nervosität in den Wochen vor dem grossen Wettkampf massiv und unweigerlich zunimmt. Da hilft es natürlich ungemein, wenn «Veteranen» mit guten Ratschlägen zur Seite stehen ...
Checkliste:
Hatte ich schon erwähnt, dass ich mich nicht wohl fühle in grossen Menschenmengen?
Kein schöner Anblick für Leute mit Platzangst, ja. Doch die gute Nachricht: Es ist überhaupt nicht schlimm!
Man steht mit Wildfremden und Gleichgesinnten während längerer Zeit in einem mit Metallgittern eingezäunten Bereich. Dann öffnen sich die Schleusen und die Läufer strömen ohne spürbaren Stress Richtung Start. Kein Geschubse, kein Gefluche, sondern Lachen und Vorfreude. Erst wenn man in aller Ruhe die Skis montiert hat und über die Startlinie läuft, beginnt die Zeitmessung automatisch zu laufen. Das ermöglicht der in die Startnummer integrierte Chip.
An dieser Stelle gilt es anzumerken, dass man als Langlauf-Anfänger praktisch zuhinterst startet. Das heisst, dass man die Spitzenathleten höchstens auf der Grossleinwand zu Gesicht bekommt. Wie auch das Gros des Feldes.
Der Grossteil der ambitionierten Teilnehmer (und davon gibt es sehr viele!) ist längst hinter der übernächsten Windung verschwunden, als die klassischen Volksläufer den ersten, unendlich scheinenden gefrorenen See abhaken.
Ein Wort zu den Frauen:
Manche Teilnehmerinnen scheinen vom gleichen brennenden Ehrgeiz getrieben zu sein wie die männliche Konkurrenz. Das finden wir bei einem der wenigen unverschuldeten Stürze heraus: Eine junge Schwedin/Norwegerin drängt einen Mitstreiter ab, so dass er kopfüber in den Tiefschnee taucht. Die Frau hält an und will ihm heraushelfen. Doch da ruft ihr die Kollegin energisch etwas zu. Sie dreht sich um, und eilt weiter.
Wir lachen herzhaft über die erfrischende Begegnung, nehmen es sportlich und werden uns spätestens am übernächsten Wasalauf angemessen revanchieren.
Tausende freiwillige Helfer und unzählige Zuschauer am Streckenrand machen den «Engadiner» zum Volksfest. Die für mich schönste Erinnerung ist ein kleines Mädchen, das an einem Hügel steht, sich von seinen Eltern löst und uns mutig rosarote Traubenzucker entgegenstreckt. 🙏
Ein grosses «Grazcha fich» geht auch an die munteren Standbetreiber, die ab Kilometer 30 Bier und Cüpli ausschenkten. Wobei ich ehrlich gesagt schon so auf dem Zahnfleisch lief, dass nur mein Mitstreiter seinen Durst stillte.
Zum Kulinarischen:
Auf den zweiten 20 (!) Kilometern war bei mir die Luft draussen. Zum Glück hatte ich einen Gefährten, der als Zugpferd voranging. Die Laufzeit war schliesslich nebensächlich. Dario Cologna sass vermutlich längst zuhause in der Sauna, als wir eintrudelten. Beim dritten Saunagang ...
Du spielst mit dem Gedanken, am Engadin Skimarathon teilzunehmen? Dann helfen dir vielleicht diese Tipps:
PS: Der Artikel hat sich nicht wegen des Muskelkaters des Schreibenden dermassen verzögert!
So aus dem Stand sind 42km doch tierisch?