Einmal im Monat kam sie. Die unheimliche Sendung, die kein Kind schauen durfte. Unfassbare Gräuel sollten von ihr ausgehen, und auch unsere Mütter flüsterten einander zu, dass sie «Aktenzeichen XY ... ungelöst» niemals alleine schauen könnten, es sei schlicht unmöglich, sie würden sich danach ja nie mehr aus dem Haus wagen. Die Sendung war das erste True-Crime-Format der Welt, geboren am Freitag, dem 20. Oktober 1967 im ZDF.
Die deutsche Regisseurin Regina Schilling hat im preisgekrönten Dokumentarfilm «Kuhlenkampffs Schuhe» den Antagonismus von Altnazis und Überlebenden des Holocausts in der deutschen TV-Unterhaltung untersucht. Jetzt widmet sie sich in «Diese Sendung ist kein Spiel: Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann», dem Schöpfer und seinem Monster.
Es kommt da einiges zusammen: Erstens war das ZDF 1963 von Konrad Adenauer als Gegenmassnahme zur allzu «linken» ARD gegründet worden. Zweitens handelte es sich bei dem 37-jährigen Zimmermann um eine mehr als abenteuerliche Figur.
Er ist das uneheliche Kind einer 17-jährigen Kellnerin, wächst bei Pflegefamilien und bei der Oma auf. 1944 tritt er in die Hitlerjugend ein, mit 18 reist er als blinder Passagier nach Schweden und arbeitet mit einem gefälschten Diplom als Strassenbauingenieur. 1950 fährt er nach Deutschland, um für die Schweden eine Reportage über die sowjetisch besetzte Zone zu schreiben, wird von den Sowjets verhaftet und zu 25 Jahren Bautzen verurteilt. Nach vier Jahren kauft ihn die BRD frei und Zimmermann wird Journalist. Und hat irgendwann die Idee, im Fernsehen auf echte Verbrecherjagd zu gehen.
«Aktenzeichen XY» ist ein offener Aufruf zur Bürgerwehr, zum Mob, zum Shitstorm avant la lettre, zum Hobby-Ermittlertum und zum «anonymen Denunziantentum», wie die ARD Zimmermann vorwirft. Und zur kollektiven Paranoia. Zimmermann lässt wahre, ungelöste Verbrechensfälle von Schauspielerinnen und Schauspielern nachspielen, kein Detail geht dabei vergessen, Bilder von echten Leichen und möglichen Tätern werden gezeigt, das TV-Publikum wird zur Mithilfe aufgefordert und kann in der Sendung anrufen, für den richtigen Tipp gibt's 1000 DM. Zuerst sind ZDF und Polizei dagegen, doch bereits nach der ersten Sendung wird ein Betrüger gefasst.
Leider ist der Betrüger bloss der Nebenfall. Der Hauptfall ist eine Frauenleiche, die von einem rechtschaffenen Dorfbewohner im Wald gefunden wird. Sie ist jung, hübsch und extravagant gekleidet. Sie ist der Prototyp des Zimmermannschen Opfers: vermutlich selbstbewusst, vermutlich auf dem Weg zu einem Vergnügen und gerade deshalb sehr, sehr tot. Bestraft für ihren Übermut. Das Wort «Sittlichkeitsverbrechen» fällt in «Aktenzeichen XY» überdurchschnittlich oft.
Zimmermann suggeriert genüsslich eine klare Weltordnung: Es gibt die braven deutschen Nachkriegsbürger mit ihren Familien, die sich ihr bisschen Wohlstand wacker erarbeitet und verdient haben. Ihnen gegenüber stehen die Verbrecher. Sie sind immer und ausschliesslich böse. Und sie kommen nie aus den Familien. Gerade im Fall der Sittlichkeitsverbrechen entspricht dies jedoch nicht den kriminalstatistischen Tatsachen. Auch im Fall der ersten Toten von «Aktenzeichen XY» ist der Mörder der Verlobte. Er stellt sich zwei Jahre später der Polizei.
Die Frau, besonders die junge, ist bei Zimmermann gefährdete Ware, sobald sie das Haus verlässt. Am sichersten ist sie in den nachgespielten Szenen als Hausfrau. Sobald sie alleine unterwegs ist, beginnt die Gefahr, die immer männlich ist. Beim Autostopp, in der Bar oder auch einfach, wenn man unterwegs die Frage eines Fremden beantwortet.
Ich glaube, meine Grossmutter lernte jeden einzelnen der Fälle auswendig, so lebhaft war ihre Fantasie stets von Mädchen bevölkert, die vom Velo gerissen, in ein Auto hineingerissen, verschleppt, vergewaltigt, ermordet wurden. Sie gab mir das Gefühl, dass dies in unserer Gegend mindestens täglich passieren musste. Und hätte Zimmermann irgendwann den bundesrätlichen Covid-Satz «Bitte bleiben Sie zuhause» geäussert, meine Grossmutter hätte ihn ungefiltert an mich weitergegeben. «Aktenzeichen XY» legte eine Atmosphäre der Angst über Deutschland. Und über Österreich und die Schweiz, die beide bald in Deutschlands erfolgreichsten Strassenfeger einstiegen.
Regina Schilling zeigt sehr schön, wie Eduard Zimmermann in seiner Sendung an einem konservativen Gesellschaftsbild arbeitete, wie er Fälle wählte, in denen er Frauen und Homosexuelle auf ihre Plätze verwies, wie er Drogenkonsum geisselte und nichts daran fand, dass Männer das Nachtleben genossen, dies bei Frauen jedoch für unverantwortlich hielt.
Was sie nicht zeigt, ist der televisionäre Kontext der True-Crime-Serie mit Deutschlands fiktionalen TV-Krimis. Denn Deutschland galt wohl nicht ganz zufällig jahrzehntelang als grösster und härtester TV-Krimiproduzent der Welt. Es war, als ob sich da sehr viel nationales Schuldbewusstsein kathartisch entladen könne. Der Showrunner hinter den erfolgreichen Edgar-Wallace-Verfilmungen etwa, aus denen der beliebte ehemalige SS-Soldat und spätere Derrick-Darsteller Horst Tappert hervorging, und hinter «Derrick» (1974– 1998) selbst war der 1914 geborene Herbert Reinecker. Er war Hauptschriftleiter der Hitlerjugend-Reichszeitschrift «Der Pimpf» gewesen und hatte propagandistische Kriegsberichterstattung für die Waffen-SS verfasst.
Oberinspektor Derrick ermittelte in München, wo sich die Verbrechen meist gegen wohlhabende, angesehene Menschen in schönen Häusern richteten. «Derrick» kann damit durchaus als eine ZDF-Massnahme gegen die gesellschaftskritischere ARD-Serie «Tatort» (seit 1970) gelesen werden. Wie «Aktenzeichen XY» setzte allerdings auch «Tatort» überdurchschnittlich oft und gern die schöne (nackte) Frauenleiche in Szene. Und wie «Aktenzeichen XY» brauchte auch «Tatort» ewig bis zur Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, dann wurde sie zu einer inflationären Obsession.
Bis 1979 vermied es Zimmermann tunlichst, in seiner Sendung nach dem ersten Naziverbrecher zu suchen, obwohl von diesen doch genug – und gewichtige – zur Fahndung ausgeschrieben waren. Dagegen konnte er es nicht erwarten, 1977 in die Fahndung nach den Entführern und Mördern des deutschen Arbeitgeber-Präsidenten und ehemaligen SS-Führers Hanns Martin Schleyer einzusteigen.
Um sein konservatives, anti-emanzipatorisches Weltbild zu untermauern, erfand er, wie Regina Schilling jetzt beweist, gelegentlich sogar Zitate aus Kriminalstatistiken, die es nie gegeben hatte. «Angst macht vorsichtig», war sein Credo, alles andere seien «Wunschbilder». Alles, was die Linken, die Grünen, die Jungen und die Frauen damals äusserten. Dass die Grünenpolitikerin Petra Kelly 1992 ermordet wurde, dürfte ihm eine leise Genugtuung gewesen sein. Dass es ihr Lebensgefährte war, der sie erschoss, eher nicht.
PS: Eduard Zimmermann ging 1997, nach 30 Jahren, in Rente. Bis heute sind über 600 Folgen ausgestrahlt. Von 4952 vorgestellten Fällen (davon 467 aus der Schweiz) konnten 1483 gelöst werden.
«Diese Sendung ist kein Spiel: Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann» von Regina Schilling ist bis zum 31. August in der ZDF-Mediathek ohne Geoblocking zu sehen.
Ich verstehe jedoch nicht warum jetzt das Sendungsformat Aktenzeichen XY dermassen ins Negative gezogen wird.
Viele Verbrechen wurden, werden und werden auch in Zukunft noch durch die Ausstrahlung der Fälle aufgeklärt. Nicht zu vergessen sind z.B. auch die ganzen Cold Cases die durch deren erneute Ausstrahlungen doch noch zu einer Aufklärung geführt haben!
Da frage ich mich; was ist jetzt so Negativ daran?
Im Gegenzug zu anderen TV Formaten besteht wenigstens ein Mehrwert!
Erstens berichtete er über echte Verbrechen. Es waren keine gescripteten, wie bei den Krimiserien.
Zweitens war das damals der allgemeine Zeitgeist: Stehe morgens früh auf, gehe einer seriösen Arbeit nach, komm pünktlich nach Hause und geh früh ins Bett. Halte dich von Drogen fern, lass dich nicht von Fremden ansprechen, kleide dich anständig, steig nicht in fremde Autos etc.