Es war einmal ein Mann, der hatte eine Idee. Er setzte sich hin und schrieb: «Ein junges, gesundes und gut genährtes Kind ist im Alter von einem Jahr ein köstliches, nahrhaftes und gesundes Essen, ob gedünstet, gebraten, gebacken oder gekocht; und ich zweifle nicht daran, dass es in einem Frikassee oder einem Ragout gleich gut schmeckt.»
Der Mann mit dem Namen Jonathan Swift war kein Kannibale, seine radikal formulierte Food-Idee erschien 1729 unter dem Titel «A Modest Proposal» («Ein bescheidener Vorschlag») und war eine satirisch gemeinte Lösungsmöglichkeit der Hungersnot und Kinderarmut in Irland.
Jetzt hat sich ausgerechnet Gregg Wallace Swifts Schrift zum Vorbild genommen und spielt das Gesicht einer genialen Satire auf die britische Wirtschaftskrise und die Fleischindustrie. Ausgerechnet Gregg the Egg. Der 58-Jährige ist ein ehemaliger Gemüsehändler, der zur britischen «TV Personality» aufgestiegen ist, er moderiert alle möglichen Varianten der Kochshow «MasterChef», er ist ein dauergrinsendes Alltagsmöbel britischer TV-Junkies und äussert sich am liebsten in Superlativen. Ein jolly good fellow, ein Clown ohne Talent für Abgründiges. Meinte man bisher.
In «The British Miracle Meat», einer halbstündigen angeblichen Dokumentation über die Herstellung von neuem Billigfleisch, spielt er sich selbst. Das Wunderfleisch von Channel 4, dem Sender, der mit «Borat» und «Ali G» zwei Helden der Volksverarschung erfunden hat, beginnt wie ein gutgelaunter Dokfilm über eine fantastische neue Erfindung: topseriös gemacht, mit Experten, einleuchtenden Grafiken – und einem schnellen Sturz ins Bodenlose. Denn Gregg Wallace verkündet uns fröhlich, dass es sich bei der neuen Proteinquelle um weiterentwickeltes Menschenfleisch handelt.
Seit acht Monaten, erfahren wir, stellt die Firma Good Harvest (Gute Ernte) im beschaulichen Lincolnshire aus Menschenfleisch mehr Fleisch her, sechs Tonnen jeden Tag, «it sounds like magic!», jubelt Gregg, seine Kollegin macht derweil eine Strassenumfrage samt Degustation, die Passanten reagieren begeistert, denn Good Harvest verkauft ihnen nicht nur hervorragendes Fleisch, sondern kauft selbst auch Fleisch ein. Schliesslich braucht Good Harvest «Donors», Spender. Diis Fleisch, miis Fleisch, quasi.
«From Donor to Donor Kebap», frotzelt Gregg, als er eine Spenderin interviewt: Prekariatspensionärin Gillian, 67, will sich für 250 Pfund ein orangengrosses Stück Fleisch aus der Füdlibacke säbeln lassen, damit sie wenigstens zwei Wochen lang die Rechnungen bezahlen kann.
Gillians Fleisch wird zu zarten Lappen gehobelt und in ein Aquarium mit Nährlösung gehängt, es wird dort im Lauf kurzer Zeit zu einem 30 Kilo schweren Block Qualitätsfleisch zusammenwachsen. Blöd nur, dass Gillian schon so alt sei, sagt Tamara, die teure, schöne Harvest-Food-Chefin, die Heilung dauere dann länger. Tut das sehr weh, fragt Gregg, Schmerzempfinden ist subjektiv, sagt Tamara, das lasse sich nicht verallgemeinern.
«Wieso Menschenfleisch? Wieso nicht Tierfleisch?», will Gregg vom Produktionschef wissen. «Weil wir Jahrhunderte Forschung in Sachen Humanmedizin hinter uns haben», sagt dieser, «wir wissen so viel mehr über Menschen als Tiere». Wissen ist immer nur die Macht der einen. Und die Ohnmacht der anderen. «Soylent Green», der Film von 1973 über ein von Klimakrise und Übervölkerung gebeuteltes New York 2022, winkt aus der Versenkung. In «Soylent Green» essen die Leute Kekse aus Menschenfleisch.
Gregg will das Fleisch testen. Er fährt ins Zweisterne-Restaurant Le Gavroche in Mayfair. Dort ist Michel Roux Jr. Chefboss, und Michel Roux Jr. macht gelegentlich Kochsendungen mit Gregg zusammen. Sie testen Steaks, die aus Spenden von drei Menschen aus dem Nordosten Englands gezüchtet worden sind. Haben Menschen aus dem Norden einen anderen Geschmack als solche aus Südengland? «Ich denke schon, es ist, was wir auf Französisch Terroir nennen», doziert Michel Roux, «es geht darum, wo du aufgewachsen bist, was du isst». Terroir, klar, hier geht's aber eher um Terreur.
Steak A stammt von einer 54-jährigen Krankenschwester und Teilzeit-Kurierin, sehr aktiv, zwei Jobs, es ist daher etwas sehnig. Steak B ist zarter, fetter, leicht süsslich, es stammt von einem Mann, 35, arbeitslos, er verbringt seine Tage vermutlich vor dem TV. Alles nicht gut für ihn, aber deliziös für Gregg und Michel. Die Produktdeklaration steht auf der Verpackung, die Krankenschwester heisst Allison, es ist wie in diesen Restaurants, wo der Kellner sagt: «S' hüttige Schtück chunnt vo de Marie, sie isch ganz es liebs Chueli gsii und het ihri letschte Täg am Südhang vo de Chüttiger Alp us ganzem Härze gnosse.»
Steak C aus der «Premium Meat»-Auswahl befindet sich noch immer in der Versuchsphase. «Wie ein Messer durch Butter», sagt Gregg, «das hat richtige ‹Schmilzt im Mund›-Qualität». «Das ist nicht real», sagt Michel, was stimmt, «das ist Fleisch, welches ich servieren würde».
Das Premium Meat wird von Kindern unter 6 Jahren gewonnen. Gregg trifft ein paar im «Kids Wing» der Good-Harvest-Spender-Klinik. Der Kinderflügel ist entsetzlich pink, die Kids sollen sich dort erholen, es ist wichtig, dass sie, wie Schlachtvieh, vor der Entnahme entspannt sind. Auch Gillians Enkel wird jetzt Spender. Tamara redet ihm ein, er sei ein Held. Der Kapitalismus bringt den Menschen dazu, seine Kinder zu fressen.
«It's a modest proposal», schliesst Gregg Wallace seine Schauerdokumentation und nimmt damit direkten Bezug auf Jonathan Swift, ein bescheidener Vorschlag, aber sehr effizient, um die explodierenden Lebenshaltungskosten zu drosseln. «I'm Gregg Wallace. Bon appetit.»
Das ist alles very dark. Und sehr grossartig. Verstörend wie die besten Folgen von «Black Mirror». Überkandidelt heiter wie Greggs «MasterChef»-Moderationen. Auf lakonische Art entlarvend, wie das nur die Briten können. Komplett despektierlich – die Reaktionen schwanken zwischen «abscheulich» («Telegraph») und «makellos» («Guardian»). Und ein treffsicherer Beweis, dass es im Angesicht von Missständen furchtlose Satire braucht.
Der realitätsfremde Umgang der britischen Premiers mit der ihnen anvertrauten Bevölkerung wird in «The British Miracle Meat» ins teuflisch Groteske zugespitzt. Grossbritannien nach dem Brexit, das ist ein klappriges Boot auf schwerer See, dessen alleingelassene Passagiere langsam nur noch zum Kannibalismus greifen können.
«The British Miracle Meat» läuft auf Channel 4.
Bündnerfleisch
Appenzeller Mostbröckli
Zürcher Geschnetzelt
Berner Platte
Saucisson vaudois