Es bleibt in diesem seltsamen Frühling wirklich kein Gewohnheitsstein auf dem andern. Jetzt ist auch noch die «Lindenstrasse» gestorben! Am Sonntag, den 29. März 2020, legte sie sich für immer in den Archiven der Fernsehgeschichte schlafen.
Die Bieder-Bayerin Helga Beimer hatte ihr letztes Spiegelei gebraten, und wenn sie nicht gestorben ist, so feiert sie noch heute im «Akropolis» ihren (klimaneutralen!) 80. Geburtstag. Helgas Kontrahentin Anna Ziegler weinte sich durch die letzte Folge und kam beinahe ins Gefängnis. Gabi Zenker kuckte mürrisch und dachte über umweltfreundliche Trinkhalme nach. Ein wahrscheinlich böser Unternehmer verendete in einem Liftschacht, und Vasily Sarikakis wurde Grossvater.
Es war wie immer ein eifriges Werden und Vergehen und das Radio sagte: «Die Corona-Welle breitet sich in Bayern weiter aus.» Dass Mutter Beimer da überhaupt im Akropolis Party machen konnte, war natürlich reine Fiktion. Wunschvorstellung. Nostalgie. Und vielleicht war es das einzig Richtige, die «Lindenstrasse» jetzt zu beenden.
Oder wie hätte das aussehen sollen? Alle sitzen in ihren Wohnungen, skypen miteinander und als Tageshöhepunkt klingelt Vasilys Take-Away-Service, oder Carsten Flöter und Tanja Schildknecht begegnen sich auf Distanz in der Schlange vor dem Supermarkt? Undenkbar. Ganz abgesehen davon, dass die Serien- und Filmwelt aktuell eh schockgefroren ist und nichts produziert wird. Darunter fällt auch unser «Wilder».
Zum Glück wurde die letzte Folge der «Lindenstrasse» bereits im Dezember 2019 auf dem Kölner Studiogelände abgedreht (das Corona-Zitat aus dem Radio wurde nachträglich eingefügt). Zum letzten Mal wurde da ein fiktionales Stück München simuliert, auf den Monat genau 34 Jahre nach dem Start am 8. Dezember 1985. An 1756 Sonntagen war die «Lindenstrasse» in jenen Jahren da gewesen, insgesamt noch öfter als der «Tatort». Doch im Gegensatz zu diesem mit dramatisch sinkenden Einschaltquoten. Das Publikum schmolz von anfänglich stabilen zehn auf zwei Millionen zusammen. Und damit von 41 auf 7,5 Prozent Marktanteil.
Die «Lindenstrasse» war ein typisches Projekt der 80er-Jahre und damals auch so richtig aufregend. Da wurde ein breites deutsches TV-Publikum über eine klassische Nachbarschafts-Soap im Stil der britischen «Coronation Street» mit hochaktuellen Gesellschaftsfragen konfrontiert.
Oder wie Benjamin von Stuckrad-Barre 1998 im «Rolling Stone» spöttisch kommentierte: «Der WDR hält diese Serie für politisch hochgradig wirkungsvoll, weil da Müll getrennt wird, Nazis doof gefunden werden, Homosexuelle aber nicht, und sogar mal das Licht ausgeschaltet wurde gegen Atomstrom.»
Viele der Darstellerinnen und Darsteller verbachten mehr als ihr halbes Leben am «Lindenstrassen»-Set. Eine von ihnen ist die jüdische Zirkusdirektoren-Tochter Rebecca Siemoneit-Barum, die als Elfjährige gecastet wurde und dafür ihr Leben als Schlangenmädchen in der Manege gegen den Serienalltag und eine von Nonnen geleitete Schule in Köln eintauschte.
«Die ‹Lindenstrasse›», so schreibt sie in der «Jüdischen Allgemeinen», «ermöglichte mir ein paralleles, zweites Leben, in dem einiges los war, von der Schwangerschaft mit 15 zur – für ihn – tödlich endenden Affäre mit dem Schwiegervater, zwei Ehen und zwei Scheidungen, zwei Kinder, zwei Fehlgeburten und eine Abtreibung, eine beispiellose Karriere von der Fahrradladen-Besitzerin zur Diplom-Biologin mit dreijährigem Australien-Aufenthalt bis hin zur derzeit glücklichen Geliebten eines haarigen Verschwörungstheoretikers mit leichter Rechtslastigkeit.»
Erfunden hatte das Paralleluniversum einst der Regisseur und Filmproduzent Hans W. Geissendörfer, später übergab er sein Lebenswerk an seine Tochter Hana. 11 Regisseurinnen und 17 Regisseure arbeiteten mit und 1986/87 auch ein blutjunger Aufnahmeleiter, der später selbst zu einem prominenten Regisseur werden sollte: Christoph Schlingesief.
Er hasste die Serie: «‹Lindenstrasse› ist das Letzte. Ich habe das gehasst», sagte er dazu im Interview mit Stuckrad-Barre im «Rolling Stone», «und Geissendörfer, das Arschloch, hat, wenn in der Kantine einer mal erzählt hat, er kenne einen Ausländer, der aber wirklich ein Schwein sei, dann kriegte also dieser Sozialdemokrat gleich ’nen Anfall, und sein Hundetuch ist fast verbrannt am Hals.»
Natürlich war die «Lindenstrasse» ein Gutmenschen-Vollprofi-Unternehmen. Sie war damit sowas wie die Supernanny einer ganzen Republik. Das trug in zynischer und leichtfertiger werdenden Zeiten gewiss auch zur Abwanderung des Publikums mit bei. Und die Idee, dass eine Strasse für die ganze Welt stehen könnte, wurde zu Hochzeiten der Globalisierung zu sowas wie ... naja ... dem Lockdown in Zeiten von Corona.
Und selbst wenn man nur alle paar Monate mal vorbeischaute, war es da wie immer. Mutter Beimer stand wie eine Spiegeleier bratende Queen am Herd oder hoheitsvoll am Grab von Hans, im Akropolis stillten die Deutschen ihre Griechenland-Sehnsucht, irgendwo gab es ein grosses Stück Torte, irgendwer stand bedenklich weit rechts und vielen wuchs ein Doppelkinn. Die Betriebskantine der Münchner made in Köln musste ziemlich gut sein.
Im Kleinen war es eine Welt aus tausend Sorgen. Im Grossen wars Beschwichtigungsfernsehen vom Feinsten. Und dafür muss man auch einfach mal Danke sagen. Danke!
Mehrere Folgen «Lindenstrasse» gibt es hier zu sehen (kein Geoblocking.