Mit 18 ist man volljährig. Davor ist man minderjährig. Und wer minderjährig ist, darf sich seit wenigen Jahren nicht mehr für GNTM bewerben. Heidi Klum kann also von keiner 16-Jährigen mehr ein Nacktshooting verlangen. GNTM ist inzwischen auch schon 18 Staffeln lang gelaufen, und Heidi Klum ist stolz auf sich, sie sieht sich als Revolutionärin, bloss von was genau eigentlich?
Höchstens von Miss-Germany-Wahlen, meint der Ex-GNTM-Juror Armin Morbach ganz unverfroren im NDR-Dokfilm «Druck, Hass, Manipulation: Wie kaputt macht Germany‘s Next Topmodel?». Und: «Es geht überhaupt nicht um die Gewinnerin, es geht einfach um die Sendung. Und es geht um Heidi.» Der Zirkus, die Tiere und ihre Dompteurin. Erzähl uns was Neues, Armin. Nacktshootings hält er übrigens nicht mehr für zeitgemäss. Und sein Ex-Kollege Peyman Amin sagt, dass es in der realen Modelwelt wirklich kein Muss für Nacktshootings gebe. Nur bei Heidi sind sie noch immer obligatorisch.
«Heute freue ich mich darüber, das Schönheitsideal nicht nur in Frage zu stellen, sondern sogar abzuschaffen», sagte Heidi Klum einmal und auch, dass alle Diversity predigen und nur sie diese verwirklicht. Heidi kann brauchen, was sie im Sensitivity-Crashkurs gelernt hat. Nur: Was genau passiert in GNTM wirklich? Ausser der Show? Hinter der Kulisse? Auf Heidis Bankkonto?
Das Dokumentarformat «STRG_F» des NDR hat dafür 100 ehemalige Teilnehmerinnen und 50 Mitarbeitende von GNTM angefragt, gut die Hälfte hat sich vertraulich geäussert, neun Kandidatinnen und zwei Ex-Juroren sind vor die Kamera getreten, alle anderen hatten Angst, von Pro7 verklagt zu werden oder den Job zu verlieren.
Der Film zeigt auch Archivmaterial, es stammt gefühlt aus dem 15. Jahrhundert, man sieht, wie Juror Rolf Scheider 2014 einer Kandidatin spontan die Zunge in den Hals steckt, und hört Sätze wie: «Du bist nicht die Frau fürs Leben, du bist die Frau für eine Nacht.» Es gab offenherzigsten Sexismus von Heidi, ihren Co-Juroren und den Designern, von ziemlich viel offensivem Bodyshaming ganz abgesehen.
Heidi Klum funktioniert als Clan-Chefin. Sie besitzt zwei Firmen, die allerlei Lebensnotwendiges wie Mode, Schmuck oder Geschirr herstellen, bei einer davon ist Vater Günther der Geschäftsführer. 15 Jahre lang betrieb Günther zudem die Agentur OneEinsFab, betreute dort die Karrieren der Heidi-Mädchen und schaffte es, von 250 jungen Frauen für nicht viel mehr als zwei wirkliche Model-Verträge (und diese auch nur im nationalen Bereich) auf die Beine zu stellen.
Früher arbeitete Heidi für GNTM musikalisch gern mit ihrem Ex-Mann Seal zusammen, aktuell mit ihrem Jetzt-Mann Tom Kaulitz, der sich für kein Duett mit der Gattin zu schade ist, und mit dessen Bruder Bill, der auch schon mal als Designer-Juror amten durfte. Tochter Leni ist ihre jüngste familiäre Mitarbeiterin, drei weitere Kinder dürften in den nächsten Jahren auch noch eingesetzt werden.
Mit geschätzten 10 Millionen Euro pro Staffel zahlt GNTM nicht einmal ein Drittel von Heidis 36 Millionen Euro Jahreseinkommen, der Rest kommt aus Werbeverträgen, ihren Firmen und vielen Einsätzen in amerikanischen Castingshows. Ihr Vermögen beträgt laut «Forbes» 130 Millionen Euro. Eine Milliardärin ist sie noch lange nicht. Im Vergleich: Deutschlands TV-Locke Thomas Gottschalk, der Heidi Klum 1992 in einem Model-Wettbewerb entdeckte, verdiente mit 150 «Wetten, dass ...?»-Shows läppische 15 Millionen Euro.
Für Pro7 lohnt sich das Geschäft noch immer. Wie das deutsche «Handelsblatt» schreibt, betrugen die Werbeeinnahmen von GNTM 2023 55 Millionen Euro. Pro Folge wurden laut dem «Handelsblatt» im Schnitt 94 Werbespots ausgestrahlt.
Wer bei GNTM mitmacht, wird wie folgt entschädigt: Schülerinnen und Studentinnen erhalten nichts, Berufstätige einen kleinen Erwerbsausfall, der Dreh dauert drei bis vier Monate, einige mussten wegen der Teilnahme ihre Jobs und Wohnungen kündigen.
«Heidi hat den Traum in unsere Kinderzimmer gebracht», sagt Lijana Kaggwa, die vor drei Jahren mitgemacht hat. Der Traum also. Der Traum, selbst so eine Heidi zu werden. Nicht für alle wurde er zum Alptraum. Aber für einige schon. Lijana hat es mit am härtesten erwischt.
Sie war eins der Mädchen, das zur Zicke gestylt wurde. Eine Staffel lang gebärdete sich das Team hinter der Kamera als ihr grosser Verbündeter, sie glaubte, echte Freundschaften geschlossen zu haben, wurde getröstet, wenn sie weinte, sie vertraute den Leuten und vertraute darauf, dass sie bei der Ausstrahlung gut wegkommen würde. Sie hatte sich geirrt.
«Ich wurde bespuckt, es wurde sogar ein Giftköder in meinen Garten gelegt, um meinen Hund zu vergiften. Da waren Leute, die geschrieben haben: ‹Knöpft diese schwarze Hure an den nächsten Baum und vergewaltigt sie!›» Pro7 erhält eine derart detaillierte Mord- und Vergewaltigungsdrohung gegen Lijana, dass sie unter Polizeischutz gestellt wird.
Simone Kowalski, die Gewinnerin von 2019, erlebt ebenfalls, wie ihr ein Narrativ auf den Leib geschnitten wird, sie heult und nervt darin den ganzen Tag.
Tessa Bergmeier, die nach ihrer krawallesken Teilnahme in der 4. Staffel nur noch einen Job als Kloputzerin erhielt, sagt, sie habe lange gebraucht, bis sie Menschen überhaupt wieder vertraut habe. Selbst Taynara Wolf, die 2016 das «Glück» hatte, der «Sonnenschein» der Staffel zu sein, sagt: «Also, die Toilette ist dann mein bester Freund geworden.» Denn nur dort war sie während des Drehs vor Kameras sicher gewesen.
Ein GNTM-Drehtag dauert lange, nicht selten von 5 Uhr früh bis 1 Uhr nachts. Ziel sind nicht die «Walks» oder die «Eliminations», Ziel ist die Herstellung von zwischenmenschlichem Content, denn irgendwie muss die Reality ja ins Reality-Format kommen. Am besten funktioniert das mit dem Prinzip des emotionalen Dampfkochtopfs. Indem man die jungen Frauen in der Modelvilla einschliesst, ihnen Handys und Internet wegnimmt, sie von der Aussenwelt so vollkommen isoliert, dass sie beispielsweise im Februar 2020, nach abgeschlossenen Dreharbeiten ohne Vorwarnung in eine Welt unter Corona entlassen wurden.
Im Dampfkochtopf passiert vieles, vom Drehteam werden gezielt Gerüchte gestreut und aufblühende Intrigen gefüttert, so funktioniert nun einmal Reality-TV, da dürfte sich GNTM nicht allzu sehr vom «Bachelor» unterscheiden. Oder wie Best-Ager-Kandidatin Lieselotte im Film sagt: «Man wird dünnhäutig, wenn man da mitmacht, ich denke aber, man wird dünnhäutig in jeder Reality-Show.»
Auch die jungen Zuschauerinnen macht die televisionäre Auseinandersetzung mit Körperbildern dünnhäutig. Beziehungsweise dünn.
Der Unterschied von GNTM zu jeder anderen Reality-Show heisst Heidi. Die Sonnenkönigin, um die am Ende alles kreist. Und die dafür gesorgt hat, dass alle, die ihr das Rampenlicht stehlen könnten, nicht mehr da sind.
Früher, sagt Peyman Amin, hätten nicht nur die «Mädchen» Content liefern müssen, da wären auch noch Charakterköpfe wie die Catwalktrainer Bruce Darnell oder Jorge González gewesen, die für viel Unterhaltung gesorgt und Druck von den Kandidatinnen genommen hätten. Doch sie schillerten zu sehr und mussten weg. Jetzt seien eben die Kandidatinnen die «Leidtragenden».
Jedenfalls die sensiblen. Viele seien heute nur da, um sich Fame für ihre Social-Media-Karriere abzuholen, sagt Peyman. Germany's Next Influencer. Die Nervenkostüme seien härter geworden.
Bis dann eines Tages der Hund vergiftet im Garten liegt.
P.S. Heidi Klum hat zu den Fragen des NDR keine Stellung genommen. Pro7 beharrt darauf, die Sorgfaltspflicht gegenüber den Kandidatinnen stets eingehalten zu haben.
Den Dokfilm «Druck, Hass, Manipulation: Wie kaputt macht Germany‘s Next Topmodel?» gibt es in der ZDF-Mediathek und auf YouTube zu sehen.