Ein bemerkenswertes Naturschauspiel findet gerade in den USA statt: Milliarden von Singzikaden kriechen momentan aus dem Erdboden und schwärmen durch die amerikanischen Wälder und Vorstadtbereiche. Wenn die Bodentemperatur 18 Grad Celsius erreicht, kommen sie aus dem Boden. Die Insektenschwärme breiten sich deshalb nach Norden und zur Ostküste hin aus, spätestens im Juni wird es voraussichtlich auch im nördlichen Illinois zur Sache gehen. Der Höhepunkt der Invasion.
Grundsätzlich gibt es jedes Jahr Zikaden in den US-Wäldern, doch aktuell sind es deutlich mehr als üblich. Denn 2024 ist ein Zikadenjahr: Forschende vermuten, dass es weltweit rund 50’000 verschiedene Singzikaden-Arten gibt. Wer schon mal am Mittelmeer in den Ferien war, hat sicher auch schon welche gehört. Doch nur im Südosten der USA gibt es «Magicicada», magische Zikaden.
Im Gegensatz zu den normalen Zikaden, deren Lebenszyklus zwischen zwei und fünf Jahren dauert, leben periodische Zikaden der Gattung «Magicicada» deutlich länger: entweder 13 oder 17 Jahre – je nach Brut. Die meiste Zeit verbringen die Insekten, erkennbar an ihren roten Augen, im Boden. Dann kommen alle gleichzeitig nach oben, häuten sich, beginnen zu singen, paaren sich, legen Eier ab – und sterben.
Die Paarungsrufe der männlichen Zikaden sind dabei ohrenbetäubend: Lautstärken bis zu 110 dB werden erreicht, was lauter ist als die meisten Staubsauger. Die Anwohner nennen das Spektakel gar «Zikageddon». Die Geräusche erzeugen die Zikaden mit einem einzigartigen sogenannten Tymbalorgan.
Zuletzt sorgte 2021 das Auftreten der Brut X für Schlagzeilen. In diesem Jahr passiert aber etwas noch Selteneres: Brut XIII und die besonders grosse Brut XIX kommen zum ersten Mal seit 221 Jahren (seit 1803) gemeinsam nach oben. Damals herrschte in Europa noch Napoleon. Man spricht bei diesem Phänomen von einer sogenannten «Dual Emergence»: Über eine Billion Zikaden werden dabei weite Landstriche im Südosten der USA heimsuchen, 17 der 50 Bundesstaaten sind betroffen.
In der Mitte des Bundesstaates Illinois berühren sich die Verbreitungsgebiete der 13-jährigen Brut XIX und der 17-jährigen Brut XIII. Inwiefern sie sich gar überschneiden, wollen Forschende nun mithilfe einer Smartphone-App herausfinden. Wer Zikaden beobachtet, kann auf «Cicada Safari» ein Foto hochladen. Bereits 225'000 Sichtungen sind eingegangen und es braucht noch mehr: Schliesslich sind Beobachtungen nur alle 13 respektive 17 Jahre möglich. Insgesamt gibt es in den USA zwölf aktive 17-Jahr- und drei aktive 13-Jahr-Bruten.
Wie die Zikaden wissen, dass 13 oder 17 Jahre vergangen sind, ist übrigens noch immer ein Rätsel. «Wir haben darauf keine einfachen Antworten», sagt Entomologe Grunder. «Auf diesem Gebiet wird aktiv geforscht.» Vermutet wird, dass diese Verhaltensweise in der letzten Eiszeit entstanden ist – damit die Zikaden bei tiefen Temperaturen seltener an die Oberfläche mussten. Ausserdem wird angenommen, dass sich die Zikaden nicht an den Jahren, sondern an der Abfolge der Jahreszeiten über Baumsäfte orientieren.
Doch auch die Zahlen selbst veranlassen zu Spekulationen – 13 und 17, beides Primzahlen. Bis heute rätseln Forschende, ob dieser ungewöhnliche Rhythmus durch Zufall entstanden ist oder ob er möglicherweise verhindern soll, dass sich Fressfeinde auf die Zikaden-Massen spezialisieren.
Was dagegen bekannt ist: Mit der schieren Masse sichern die Zikaden der Gattung Magicicada den Fortbestand ihrer Art: Fressfeinde schlagen sich zwar die Bäuche voll, aber es überleben immer noch ausreichend Zikaden, um für Nachwuchs zu sorgen. Ausserdem haben die Tiere einen positiven Effekt auf ihre Umwelt. Sobald die Zikaden sterben, sind sie wie ein Dünger für den Boden und sorgen dafür, dass die nächste Baum-Generation einen optimalen Start hat.
Früher dachte man, die biblischen Plagen kehren zurück. Aber im Gegensatz zu Heuschrecken vernichten die periodischen Zikaden keine Ernten und beissen nicht.
Für Eichhörnchen, Vögel, Waschbären und Mäuse sind die Insekten eine willkommene Nahrungsquelle. Auch Haustiere wie Hunde und Katzen greifen gerne zu, ihre Herrchen und Frauchen sollten dem aber Grenzen setzen, um Verstopfungen zu vermeiden, warnt der Experten-Blog «Freunde für Zikaden».
Auch für experimentierfreudige Hobbyköche bieten sich neue Möglichkeiten: Längst kursieren im Internet Tipps, wie die proteinhaltigen Insekten am besten zubereitet werden können.
Ist das diesjährige Spektakel erstmal vorbei, müssen sich Zikaden-Fans exakt 13 Jahre gedulden, bis es das nächste Mal eine «Dual Emergence» gibt. Dann überschneiden sich die Brut XIX und die Brut IX. So viele Zikaden wie in diesem Jahr werden dann aber nicht zu beobachten sein, denn die Brut IX ist deutlich kleiner sowie geografisch weniger weit verbreitet als die Brut XIII.
Spannend, was die Natur alles so für Tricks auf Lager hat. Und wir sind auf dem besten Weg, alles an die Wand zu fahren.