Auf dem Höhepunkt seiner Suche nach dem perfekten Ernährungsstil wog Nils Binnberg bei einer Grösse von 1.85 Metern noch 68 Kilo und nahm nur noch fünf Lebensmittel zu sich: Räucherlachs, Avocado, Fleisch, Salat und ein paar Nüsse.
Über die Jahre hatte er sich immer strengere Ernährungsregeln auferlegt: alle Produkte mussten bio, gluten- und zuckerfrei sein, mussten leistungssteigernde Eigenschaften haben. Kohlenhydrate ass der damals 37-Jährige schon seit sieben Jahren nicht mehr.
All dies tat er in der Hoffnung auf ein schlankeres, gesünderes, besseres Ich. Dass er keine Einladungen zum Essen mehr annehmen konnte, dass seine Gedanken nur noch um seine Ernährung kreisten, er sich schmutzig und schlecht fühlte, wenn er eine Regel brach, war ihm keine Warnung. Er fühlte sich nicht krank, sondern moralisch überlegen.
«Ich ekelte mich regelrecht vor fettigem, billigem Essen und auch den Menschen, die solches in sich hineinschaufelten», erzählt der Deutsche am Telefon. «Ich war überzeugt, dass mich Zucker, Brot, Fertigessen und Lebensmittel, die nicht bio sind, krank machen.»
Über seine Fixierung auf gesundes Essen, sein Abrutschen in eine zwanghafte Ernährungsform hat Nils Binnberg ein Buch geschrieben. In «Ich habe es satt!», beschreibt er sein achtjähriges Leiden. Der heute 42-jährige Journalist ist damit einer der wenigen, die öffentlich dazu stehen, an Orthorexia nervosa gelitten zu haben.
Der Begriff umschreibt das zwanghafte Beschäftigen mit vermeintlich gesundem Essen. Psychiater und Ernährungsberater sprechen lieber von orthorektischem Essverhalten und nicht von Orthorexie als Krankheit. Denn auch wenn Orthorexie seit etwas mehr als 15 Jahren in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben wird, gibt es bisher kaum gesicherte Forschungsergebnisse und die Orthorexie wird auch nicht als offizielles Krankheitsbild anerkannt.
Fest steht: während bei Magersucht oder Bulimie die Menge, der verzehrten Lebensmittel im Mittelpunkt steht, ist bei orthorektischem Essverhalten die Qualität im Fokus.
Für Nils Binnberg ist die Orthorexie die «furchterregende kleine Schwester der Magersucht». In einer Gesellschaft, in der die körperliche Selbstoptimierung zum Standard geworden sei, werde es immer schwieriger, eine Essstörung überhaupt zu erkennen, sagt er.
Tatsächlich scheinen immer mehr Menschen an Lebensmittelunverträglichkeiten zu leiden, sich vegan oder kohlenhydratfrei zu ernähren ist hip, nur bio einzukaufen in gewissen Kreisen fast zwingend.
Nicht verwunderlich erfuhr Binnberg, selbst in seiner extremsten Phase, als er etwa zwanzig Ernährungslehren gleichzeitig folgte, fast nur Zuspruch. «Alle fanden es bewundernswert, dass ich so sehr auf meine Ernährung geachtet habe.» Verzicht gelte heute als Charakterstärke.
Dies, obwohl er ein Essens-Snob mit allen möglichen eingebildeten Nahrungsmittelunverträglichkeiten gewesen sei, der zudem noch alle missionieren wollte. Ab einem gewissen Zeitpunkt sei er dann richtig asozial geworden. «Ich verzichtete auf gemeinsame Abendessen mit Freunden, wenn mir die Speisekarte in einem Restaurant nicht passte. Die Angst davor, etwas Falsches zu essen, war so gross, dass ich in Kauf nahm, allein zu sein.»
Früher hiess es, du bist was du isst, heute müsste es heissen «du bist, was du nicht isst», sagt Binnberg. Essenstabus seien ein Mittel zur Distinktion. Sie helfen Menschen, sich von anderen abzugrenzen und sich gleichzeitig ihrer Gruppe zugehörig zu fühlen. Neu ist das nicht. Religionen wie etwa das Judentum, der Islam, aber auch der Hinduismus nutzten Essenstabus seit je, um ihre Glaubensgemeinschaft abgrenzen zu können.
Essen sei schon immer Glaubenssache gewesen, sagt Binnberg. Für viel problematischer hält er den Umstand, dass das Essen zu einer Wissenschaft geworden sei.
Jeden Tag würden 250 neue Studien zum Thema Ernährung publiziert, rechnet der Journalist in seinem Buch vor. Viele davon mit widersprüchlichen Ergebnissen und auf wackeliger Empirie. Statt den Menschen zu helfen, würde die Ernährungswissenschaft die Leute verunsichern. In diesem Dschungel an Daten und Studien blickt keiner mehr durch. «Jeder Ernährungsguru kann sich seine eigene Lehre daraus basteln.»
Der Übergang von gesunder Ernährung als Tugend zum krankhaften Verhalten ist fliessend, und von Aussenstehenden schwierig zu unterscheiden. Oft bleibt orthorektisches Essverhalten daher lange unerkannt.
Viele Betroffene gehen nur zum Arzt, wenn sie Begleiterscheinungen ihrer Mangelernährung bekommen, beispielsweise Schlaflosigkeit, Hautprobleme oder generelle Erschöpfung. Allerdings: Wie auch bei Anorexie-Patienten gibt es bei Orthorexie-Betroffenen selten Einsicht, dass das eigene Essverhalten schädlich ist.
Er selbst realisierte, dass er ein ernsthaftes Problem mit dem Essen hatte, als er zum ersten Mal auf den Begriff Orthorexia nervosa stiess. «Ich googelte den Begriff sofort und fühlte mich mit jeder Zeile, die ich darüber las, mehr angesprochen.»
Seinen Weg aus dem zwanghaften Essverhalten fand er durchs Recherchieren und Schreiben. «Indem ich mich vertieft mit all den Diäten, Unverträglichkeiten und Studien befasste, konnte ich den Aberglauben entlarven.»
Heute wisse er, dass es keine «bösen» und «guten» Lebensmittel gebe. Dass keine Diät Krebs vorbeugen und schon gar nicht heilen könne, dass Grünkohl keine schönere Haut macht und Gluten keine Müdigkeitsattacken auslöst.
Schmerzhaft sei die Erkenntnis gewesen, dass er sich sein schlechtes Selbstwertgefühl über eine «reine» Ernährung aufzubessern versucht hatte. «Wenn ich mich ‹clean› ernährte, verspürte ich ein Hochgefühl, als sei ich der Dalai Lama.» Mit den strikten Essregeln hatte Nils Binnberg versucht, Ordnung in sein gerade «ziemlich durchgeschütteltes Leben», wie er es rückblickend beschreibt, zu bringen.
Heute, neun Jahre später, isst Binnberg wieder alles, ist weiterhin schlank, macht viel Sport. Auf die Frage was für ihn denn nun gesundes Essen sei, sagt er: «Essen ist grundsätzlich eine gesunde Sache, denn ohne zu essen, könnte der Mensch nicht leben. Frei nach Paracelsus gilt: die Dosis macht das Gift.»
Gesund sei aber auch, sich die meiste Zeit nicht damit zu beschäftigen. An den meisten Tagen gelingt ihm das – und ein Leben ohne Mandelcroissants möchte er sich nicht mehr vorstellen.
Nils Binnberg: «Ich habe es satt! Wie uns Ernährungsgurus krank machen». Suhrkamp, S. 159, Fr. 20.–.
Diese Aussage entspricht dem, was ich einmal in einem schlauen Buch als These gelesen habe. Die Menschen in unserer Gesellschaft sind vielen rasanten Veränderungen ausgesetzt, die verunsichern und Angst machen (Globalisierung, Digitalisierung, Migration, Klimaveränderung u.a.). Die eigene Ernährung ermöglicht dem Einzelnen, das Gefühl von Kontrolle und Sicherheit aufrecht zu halten. Es geht um eine Form der Selbstberuhigung.