Sein Rückzugsort ist von Geistern bewohnt. So nennt er die Frauen, die sich auf dem Bildschirm winden und unterwerfen. Der 33-jährige Jamal, der eigentlich anders heisst, aber seinen Namen nicht in dieser Zeitung lesen will, ist pornosüchtig. So wie drei bis sechs Prozent der Schweizer. Seine Sucht begleitet ihn seit 21 Jahren und wird das wohl für immer tun.
Jamal fällt auf, wenn er spricht. Man will ihm zuhören, so überzeugend ist seine Stimme, so ansteckend seine Fröhlichkeit. Er sitzt aufrecht im Stuhl. Die dunklen Haare bis zur letzten Locke perfekt gestylt. Und er erzählt von seinem Beruf, den er über alles liebt, von seiner Freundin, die zurzeit im Ausland ist und die er vermisst. Erzählt er von ihr, gestikuliert er mit den Händen und verleiht seinen Worten Nachdruck. «Sie ist mein Zuhause.»
Ein Mausklick und das Ganze droht zu bröckeln.
Jamal war zwölf, als er Covergirls auf den Magazinen im Internet entdeckte. Als er die Kurven der Frauen auf dem Computerbildschirm in seinem Kopf zum ersten Mal nachzeichnete. Als sie in ihm ein Gefühl erweckten, das er zuvor nicht gekannt hatte. Lust.
Kindliche Neugierde nennt er den Treiber. Es fing harmlos an: «Anfangs reichten mir Videos von Frauen, die sich auszogen. Sie fassten sich an.» Er tat es ihnen gleich.
Die Neugierde wurde zum Ritual. Täglich versteckte er sich hinter dem Computer seiner Eltern. Aus einer Frau wurden eine Frau und ein Mann, zwei Frauen, zwei Männer, eine Gruppe Männer um eine Frau. Sie verführten einander, er sich selbst.
Ein Video, zwei, drei ... er hatte so viele Tabs geöffnet, dass nicht mehr alle zu sehen waren. Seine Abende waren streng durchtaktet, bis zum Höhepunkt. Den er eigentlich gar nicht erleben wollte. Er beobachtete, fühlte, stellte sich vor – immer bis er kurz vor dem Orgasmus war. Dann hielt er sich zurück, damit der Rausch nicht endete. So befand er sich in seiner frühen Jugend mehrere Stunden täglich in diesem Teufelskreis.
Einmal erlöst, war er erschöpft. Jamal schlief ein. Müde und unzufrieden. «Ich war wie betäubt. Der Orgasmus brachte mir keinen Frieden.»
Zur selben Zeit trennten sich seine Eltern. Jamal kann sich nicht daran erinnern, dass sie sich jemals vor ihm geküsst hatten. Zärtlichkeiten oder Familienfotos, bei denen alle Hand in Hand laufen, gab es bei ihm nie.
«Mein Vater trank regelmässig. Meine Mutter kümmerte sich um die Familie.» Er selbst setzte tagsüber eine Maske auf: «Ich versuchte es allen recht zu machen und möglichst nicht aufzufallen.» Abends suchte er Zuflucht in der Pornografie.
Dass er süchtig war, wusste Jamal damals nicht. Über Pornografie wurde nicht oft gesprochen. Einzig einer seiner Freunde erwähnte, dass der Durchschnittskonsum wenige Minuten pro Tag betrifft. Dass Jamal vier bis fünf Stunden damit verbrachte, verschwieg er.
Auch zwischen ihm und seiner Mutter, die den Computer-Suchverlauf entdeckte, entstand kein echtes Gespräch. «Ekelhaft. Falsch», nannte sie die Pornografie und versuchte ihm den Konsum zu verbieten. Sie würde ihn noch mehrere Male erwischen, doch mit der Zeit liess sie ihn in Ruhe, wenn seine Zimmertür geschlossen war.
Sechs Jahre lang hatte Jamal nur vor dem Bildschirm einen Orgasmus. Mit 18 fasste er zum ersten Mal eine Frau an. «Ich wollte meiner damaligen Freundin alles geben, was sie braucht.» Er selbst war dabei zweitrangig, denn er hatte immer seine Videos als Rettung. An die Einzelheiten des Ersten-Mal-Sexes erinnert er sich nicht, ausser daran, dass er sich mit dem Versuch allein gefühlt hatte. Sie machten kurz darauf Schluss.
Jamal hatte nach ihr mehrere Beziehungen. Einige hielten nur wenige Wochen, einige hielten Jahre. Kaputt gingen sie immer. «Ich zog vor allem Frauen an, die ein niedriges Selbstwertgefühl hatten.» Immer suchte er die Kontrolle. Bei ihnen hatte er sie. «Die Beziehungen waren sexuell oft überladen, weil ich echte Zuneigung nie wirklich annehmen konnte.»
Jamal beschreibt einen Prozess, den die meisten Betroffenen durchlaufen. Renanto Poespodihardjo, Leitender Psychologe vom Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen in Basel, sagt: «In der Jugend auf pornografische Inhalte zu stossen, ist nicht aussergewöhnlich. Sie lösen eine Erregung aus.» Problemhaft werde es, wenn die Pornografie zum Rückzugsort wird, und sie betäuben soll. Wenn die Inhalte zu einem zentralen Lebensinhalt werden. Das heisst, wenn Treffen mit Freunden, die Arbeit, alles um den Konsum herum geplant werden.
Vor allem aber erkenne man eine Sucht daran, dass der betroffene Mann und das Umfeld daran leiden. Poespodihardjo spricht von Männern, weil diese am häufigsten an einer Pornosucht erkranken. Denn: «Die ganze Pornoindustrie ist auf Männer ausgerichtet.» Treffen könne es aber jeden, egal ob arm oder reich, jung oder alt. So auch Jamal, der einen «Traumjob» ausübt und viele Freunde hat.
Mit 22 – nach zehn Jahren Sucht – merkte Jamal, dass etwas nicht stimmen konnte. Er hatte alles – und wollte nur eines. «Ich war so weit weg von meinem Glück.» Er wusste, er war süchtig. Er wollte es nicht sein. «Ich verbot mir den Konsum.» Er scheiterte.
Über die folgenden acht Jahre versuchte er sich allein aus seiner Abhängigkeit zu retten und fiel nach jedem Versuch noch tiefer in die Sucht. «Der Reiz musste immer grösser werden. Von Gangbangs zu Fetisch. In den schlimmsten Nächten landete ich sogar bei Tiervideos.» Videos, die er sich geschworen hatte, nie anzuschauen. Aus der Trance erwacht, stellte sich bei ihm die Angst vor dem, was er gemacht hatte, ein.
Im Dezember 2021 wendete er sich schliesslich an einen Psychiater. Neun Monate lang sass er alle drei Wochen vor einem Mann, der ihm zu helfen versuchte. In der Sitzung versicherte er dem Psychiater, dass er auf gutem Wege war – zu Hause wurde er immer wieder rückfällig.
Die Hürde, sich Hilfe zu holen, ist gross, sagt Renanto Poespodihardjo. Es gebe wenige Anlaufstellen. Das Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen in Basel ist schweizweit das einzige seiner Art. Er fügt an:
Dafür gibt es einen einfachen Grund: Pornografie ist überall. Laut einer Liste der IT-Analysefirma Similarweb sind gleich zwei Seiten mit pornografischem Inhalt unter den zwanzig meistgesuchten Websites in der Schweiz. «Jugendliche werden im Internet mit Porno konfrontiert. Ob sie es wollen oder nicht.» Eine Studie der Universität Zürich zeigte im Sommer auf, dass rund die Hälfte der männlichen Jugendlichen wöchentlich Pornofilme schaut; bei den weiblichen Jugendlichen sind es gegen zehn Prozent.
Die industriell erzeugte Pornografie schaffe Schwierigkeiten in der Gesellschaft indem sie die Gestaltung einer gemeinsamen lustvollen Sexualität erschwert. Männer berichten zum Teil von Erektions- oder Ejakulationsproblemen bei realen Kontakten. Sie seien für die erotischen Reize der Sexualpartnerin oder des Sexualpartners unempfindlicher geworden.
Den Durchbruch brachte Jamal erst eine Beziehung, die wegen seiner Angst vor Nähe zu scheitern drohte. Vor bald vier Monaten traf er eine alte Studiumsbekannte auf der Strasse. Sie verstanden sich auf Anhieb und verabredeten sich zu einem Date. Sie wusste von seiner Sucht und setzte alles daran, ihm zu helfen. Drei Monate lang war die Beziehung das «pure Paradies». Bis sie ihm ihre Gefühle in aller Deutlichkeit gestand und er sich aus Angst zurückzog.
Er beschreibt den Rückfall danach als Tiefpunkt seiner Sucht. Jamal schaute sich Video nach Video an, «auf der Suche nach Halt».
Kurz darauf merkte er, dass er das verloren hatte, was er schon sein Leben lang in all den Videos suchte: Geborgenheit. «Endlich hatte ich nicht nur etwas, das ich loswerden wollte, sondern etwas, auf das ich hinarbeiten konnte. Ein echtes Leben mit echten Gefühlen.» Er wollte sein Leben auf die Reihe kriegen und seine Freundin zurückgewinnen. Jetzt, vierzehn Tage ohne Konsum, sagt Jamal: «Ich habe meinen Körper jahrelang missbraucht.»
Sollte ihn die Sucht wieder einholen, hat er Techniken entwickelt, damit umzugehen. Er spricht mit seiner Freundin darüber, geht ins Fitnessstudio, hält seine Gefühle aus. Er will Mut machen: «Ich werde immer süchtig sein, aber es gibt ein Leben ohne Konsum und ich spüre, wie erfüllend es ist.» (aargauerzeitung.ch)
Wenn ich sehe wieviele Kinder ein Tablet oder Smartphone vorgesetzt bekommen, statt dass „man“ sich mit ihnen beschäftigt und ihnen Interesse, Zuneigung und menschliche Wärme zukommen lässt, dann kann einem Angst und Bange werden.
Das Schlimmste daran: es löst nicht nur dieselben Belohnungsreaktionen wie Drogen aus sondern verändert auch das Hirn wie Drogen. Niemand käme auf die Idee Kindern Whisky hinzustellen, Smartphone aber schon mit 0 Kontrolle über konsumierte Inhalte & Zeit.
Ich wünsche 'Jamal' viel Kraft dafür, dass er seine Sucht einigermassen unter Kontrolle hat und ganz viel Liebe, die er mit seiner Freundin geniessen kann.