Herr Bieri, unser Polit-Redaktor Peter Blunschi bezeichnete den heutigen Abstimmungskampf als «seltsam» und «emotionslos». Würden Sie das unterschreiben?
Urs Bieri: Das sehe ich ähnlich. Weder begegnete man bei allen drei nationalen Abstimmungen vielen Inseraten oder Plakaten, noch wurde medial viel berichtet. Am meisten präsent war die Diskussion um das Frontex-Referendum. Doch man hat der öffentlichen Diskussion angemerkt, dass alle drei Vorlagen nicht wahnsinnig gezündet haben.
Sind wir abstimmungsmüde? Oder ist es der Krieg in der Ukraine, der unsere Aufmerksamkeit verlangt?
Ich würde sagen, ersteres. Wir haben zwei anstrengende Jahre hinter uns. Die Agrar-Initiativen und die Covid-Referenden waren sehr emotional geführte Abstimmungskämpfe. Viele Menschen, die sich dafür politisch engagiert haben, sind womöglich nun etwas ermattet. Kommt hinzu, dass alle drei Vorlagen nicht die ganz grossen Themen waren. Beim Filmgesetz ging es faktisch um nichts bis sehr wenig, und beim Transplantationsgesetz war es eher eine philosophische Frage.
Das Frontex-Referendum hätte aber Potenzial für eine emotionale Debatte gehabt.
Stimmt. Bei Frontex hätte es auch anders sein können. Europa oder asylpolitische Themen werden erfahrungsgemäss reger diskutiert.
Die Linke, die das Referendum ergriffen hat, steht nun auf verlorenem Posten. 72 Prozent der Stimmbevölkerung stimmte für Frontex.
Die Abstimmung war für die Linke keine einfache, da stimme ich Ihnen zu. Aber dass sie jetzt auf verlorenem Posten steht, würde ich bestreiten. Mithilfe des Referendums wurde die Kritik an Frontex öffentlich und Missstände wurden diskutiert. Das ist in vielen anderen europäischen Ländern nicht der Fall. Am Ende hat aber das Narrativ der Befürworterinnen gewonnen: Sie setzten sich für ein sicheres Europa und ein intaktes Schengen/Dublin-Abkommen ein. Und das wurde weit bis ins linke Lager mitgetragen. Das war sicherlich auch ein Zeichen dafür, dass viele Stimmende Missstände bei der Frontex mit einem Ausbau und Reformen und nicht mit einer Abschaffung bekämpfen wollen.
Weniger deutlich, aber doch auch ein klares Ja gab es zum Filmgesetz. Und das, obwohl die Kampagne faktisch nicht sichtbar war.
Weil der Abstimmungskampf kaum stattgefunden hat, haben viele ihre Werthaltungen zum Ausdruck gebracht. Das sieht man zum Beispiel beim klassischen Sprachgraben, der sich hier deutlich zeigt: In der Westschweiz legt man viel mehr Wert auf Service public, da sprechen sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger stets stärker für eine staatliche Unterstützung aus. Anders in ländlichen Regionen: Dort setzt man auf freien Wettbewerb und wehrt sich gegen staatliche Vorschriften.
Besonders die Jungparteien bekämpften die Lex Netflix. Gibt es neben einem Sprachgraben auch einen Altersgraben?
Wir haben bereits in den Umfragen vor den Abstimmungen einen Altersunterschied festgestellt. Ausschlaggebend war er aber nicht. Und dennoch würde ich sagen, dass diese Abstimmung gewissermassen ein Achtungserfolg für die Jungparteien war. Es waren immerhin 42 Prozent gegen Lex Netflix.
Auch das Organspendegesetz fand in der Öffentlichkeit kaum Beachtung. Warum eigentlich? Schliesslich betrifft es eigentlich jede und jeden.
Wie bereits erwähnt, war die Diskussion eine sehr philosophische – und persönliche. Einerseits war da das Lager, das für ein Recht auf Selbstbestimmung für den eigenen Körper kämpft, andererseits die ethische Diskussion, wie man Leben retten will. Und obwohl die Diskussion über das Gesetz kaum öffentlich stattgefunden hat, ist es ein anschauliches Beispiel dafür, wie Initiativen wirken können. Hier kam das Vorhaben der Befürworterinnen nicht direkt an die Urne, sondern ins Parlament und wurde dort zu einer weniger radikalen Vorlage ausgearbeitet – mit Erfolg.
60 Prozent stimmten dem Organspendegesetz zu. Das ist die fünfte gesundheitspolitische Vorlage in Folge, die vom Volk angenommen wird. Verabschiedet man sich in der Gesundheitspolitik von der Eigenverantwortung?
Von einem Abschied würde ich nicht sprechen. Aber es ist auffällig, dass mit den beiden Covid-Gesetzen, der Pflegeinitiative und dem Tabakwerbeverbot dem Staat mehr Kompetenz und Macht in Sachen Gesundheitspolitik zugesprochen wird. Es sind nicht die ganz harten Entscheide, aber man spürt eine Bewegung entgegen der Eigenverantwortung.
Waren dafür die vergangenen beiden Pandemiejahre ausschlaggebend, die gezeigt haben, dass Eigenverantwortung nicht immer funktioniert?
Dazu kann ich nur mutmassen. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass die Pandemie vielen gezeigt hat, dass Eigenverantwortung in der Gesundheitspolitik nicht immer reibungslos funktioniert.
actualscientist
trichie
Lil-Lil
Eigenverantwortung wurde als Egoismus demaskiert .
Hoffentlich kommt bald auch die Einsicht, dass Gesundheitspolitik nicht über der Wissenschaft steht.