Noch selten gab es zwei Umfragen zu einer Abstimmung, die so unterschiedlich ausfallen wie zur Verrechnungssteuer - spiegelverkehrt nämlich.
Die Umfrage von «20 Minuten» und Tamedia weist auf ein klares Nein hin. In der ersten Welle sagten 30 Prozent Ja und 53 Prozent Nein. Bis zur dritten Welle näherten sich die Werte an – auf 40 Prozent Ja und 40 Prozent Nein.
Diametral entgegengesetzt verläuft die Kurve bei GfS Bern. In der ersten Welle kam die Vorlage auf 49 Prozent Zustimmung, 35 Prozent sagten Nein. Das war fast auf das Prozent das Gegenteil der zweiten Tamedia-Welle: 34:49. Auch bei GfS näherten sich die Werte in der zweiten Welle an – auf 47:44.
Diese massiven Unterschiede verunsichern die Abstimmungslager. Es sei «ganz schwierig», auf zwei derart unterschiedliche Lagebilder zu reagieren, heisst es.
Nur: Wie kommen zwei Umfragen beim gleichen Thema zu so unterschiedlichen Schlüssen?
Ein probater Erklärungsansatz sind die Unentschlossenen. Ihr Anteil liegt noch in der letzten Umfrage hoch: 12 Prozent bei Tamedia, 9 Prozent bei GfS. «Das ist in diesem Ausmass sehr unüblich», sagt Fabio Wasserfallen. Gemeinsam mit Lucas Leemann führt er die Firma LeeWas, welche die Tamedia-Umfragen durchführt. Die vielen Unentschlossenen «schaffen Raum für unterschiedliche Umfrageresultate», sagt er. Selbst kurz vor der Abstimmung sei die Meinungsbildung weniger stark ausgeprägt als üblich.
Die Unentschlossenen alleine reichen aber nicht als Erklärung für die Unterschiede. In politischen Kreisen kursiert die Vermutung, LeeWas richte sich bei der Modellierung der Umfrage stark an der Abstimmung zur Stempelsteuer aus. Sie scheiterte am 13. Februar 2022 mit 62,7 Prozent Nein-Stimmen.
Seither hat sich die Stimmungslage aber massiv verändert. Der 13. Februar bildete der Schlusspunkt der Corona-Ausnahmesituation, welche der Schweiz Stimmbeteiligungen bescherte wie seit 1971 nicht mehr. Der Einmarsch der Russen in der Ukraine vom 24. Februar sorgt nun für ein Klima der wirtschaftlichen Unsicherheit. Das könnte sich im Abstimmungsverhalten zur Verrechnungssteuer zeigen.
Lucas Leeman von LeeWas verneint, dass die Abstimmung zur Stempelsteuer für ihre Umfragen eine Rolle spielt. «Es ist immer wieder erstaunlich, was man an Vermutungen zu unseren Umfragen alles so hört», sagt er. «Wir orientieren uns in der Modellierung nicht an vorangehenden Abstimmungen. Die Vermutung ist also falsch.»
Damit bleibt das Rätsel teilweise ungelöst. Ob eine Annäherung zu den unterschiedlichen Umfragemodellen von LeeWas und GfS Bern bei der Lösungssuche weiterhilft?
LeeWas führt offene Online-Umfragen an zwei Tagen auf den Portalen von «20 Minuten» und den Tamedia-Titeln durch. Alle können mitmachen. Damit kommen Daten von rund 20000 Teilnehmenden zusammen. Dieses Rohmaterial bearbeitet LeeWas mit statistischen Modellierungen. Dafür werden politische, geografische und demografische Informationen in einem mehrstufigen Verfahren analysiert.
Vorteil von LeeWas sind das hohe Tempo, das grosse Datenmaterial und die Motivation der Teilnehmenden, auch wirklich abzustimmen. Nachteil des offenen Modelles: Es ist anfällig Mobilisierungen der Parteien.
Auch deshalb berücksichtigen LeeWas bis zu 30 Prozent der Teilnehmenden nicht in ihren Analysen. Tamedia-Umfragen gelten in der Tendenz als behördenkritischer, vor allem wegen des Pendlerpublikums von «20 Minuten».
Eine GfS-Umfrage setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Erstens aus einer repräsentative Telefon-Umfrage mit 1200 Stimmberechtigten – und zweitens aus einer offenen Online-Befragung über die Portale der SRG mit bis zu 20000 Teilnehmenden.
GfS Bern gewichtet sein Datenmaterial und erhöht die Repräsentativität mit räumlichen, soziodemografischen und politischen Gewichtungsfaktoren. So erhält zum Beispiel eine 75jährige Frau, die Mitte wählt, 1.1 Punkte, ein 50jähriger Mann, der FDP wählt 0.9 Punkte – bei einem Schnitt von 1.
Ein Vorteil der GfS-Umfragen sind ihr Mix der Modelle und ihre Beständigkeit. Der Nachteil: Sie tun sich schwer damit, unverhoffte Opposition wie bei Corona zu erfassen.
Die Modell-Analyse liefert damit nur teilweise Erklärungen für die Unterschiede. Eines ist aber überraschend: Trotz der Unterschiede kommen nach der letzten Umfrage LeeWas wie GfS zum Schluss, dass ein Nein an der Urne absehbar ist.
«Unsere Umfragen zeigen einen negativen Trend», sagt Co-Leiter Lukas Golder. «Im Normalfall ist ein Nein wahrscheinlicher als Ja.» Noch sei allerdings ein knappes Ja von 50 bis 51 Prozent möglich. Dafür brauche es aber eine gute Schlussmobilisierung.