Als der Bundesrat im Mai 2021 das Rahmenabkommen mit der Europäischen Union einseitig versenkte, versuchte Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) die Kritiker mit einem indischen Sprichwort zu besänftigen: «If you see all grey, move the elephant!» Wer das Gefühl habe, in einer Sackgasse zu stecken, solle den Elefanten wegschieben.
Das ist bei einem solchen Dickhäuter leichter gesagt als getan, auch für Cassis selbst. Dies brachte der Tessiner im Interview mit der «NZZ am Sonntag» Anfang Juli deutlich zum Ausdruck: «Der Bundesrat würde sehr gerne bessere Beziehungen zur Europäischen Union haben. Die Frage ist bloss, wie?» Offenbar steht der Elefant immer noch im Weg.
Letztlich zeigt diese Aussage, dass dem Bundesrat mit seinem Hauruck-Entscheid kein Befreiungsschlag gelungen war. Vielmehr hat er sich tief in die Sackgasse manövriert. Er sieht nur noch Grau, in allen Schattierungen. Den Befürwortern einer konstruktiven Europapolitik platzt darob der Kragen. Auch sie operieren mit einem Elefanten.
«Unser Verhältnis zu Europa ist der grösste Elefant im Raum», sagte Sanija Ameti, die Co-Präsidentin der Operation Libero, am Dienstag an einer Medienkonferenz in Bern. Ein Thema, das omnipräsent ist und über das niemand sprechen mag, schon gar nicht der Bundesrat. Eine seit Längerem angedachte Europa-Initiative soll dies ändern.
Sie will den Bundesrat zur sofortigen Aufnahme von Verhandlungen verpflichten, um die institutionellen Fragen mit der EU zu klären. Allerdings wurde das Volksbegehren am Dienstag (immer) noch nicht lanciert. Vorgestellt wurde einzig der Initiativtext. Das trotz mehrfach betonter Dringlichkeit defensive Vorgehen irritiert, doch es gibt dafür Gründe.
Wer ein Ziel mit einer Volksinitiative erreichen will, hat einen weiten Weg vor sich. Erst müssen die nötigen 100’000 Unterschriften gesammelt werden, und danach können bis zu einer Abstimmung bis zu vier Jahre vergehen. Es würde somit lange dauern, und das Ständemehr könnte sich für eine derartige Initiative als zu hohe Hürde erweisen.
Ein weiteres Problem ist, dass es dem Initiativkomitee an starken Partnern mangelt. Die Operation Libero konnte keinen grossen Verband und keine Partei ausser den Grünen für die Initiative gewinnen. Nicht einmal die Grünliberalen, denen Sanija Ameti selber angehört und die sich als einzige Partei klar proeuropäisch positionieren, wollten sich engagieren.
Sie setzen auf den parlamentarischen Weg. Der Nationalrat nahm in der Frühjahrssession überraschend deutlich einen Vorstoss seiner Aussenpolitischen Kommission an, der den Bundesrat zur Ausarbeitung eines Europagesetzes mit ähnlicher Stossrichtung wie die am Dienstag vorgestellte Volksinitiative verpflichten will. Nur die SVP sagte geschlossen Nein.
Nächste Woche ist das Geschäft in der Schwesterkommission des Ständerats traktandiert. Ob es in der konservativeren und bedächtigeren kleinen Kammer eine Chance hat, ist auch für das Initiativkomitee eine offene Frage. «Noch zählen wir auf das Parlament, um die Europapolitik zu deblockieren», sagte die Basler Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan.
Gegen ein solches Europagesetz droht ein Referendum der SVP, allerdings wäre bei einer Abstimmung kein Ständemehr erforderlich. «Zu einer europapolitischen Zerreissprobe wird es so oder so kommen, ob durch das Gesetz oder unsere Initiative», sagte Sanija Ameti. Die Libero-Co-Chefin machte klar, dass sie den Weg über das Gesetz bevorzugen würde.
Das Europagesetz oder die am Dienstag vorgestellte Volksinitiative sollen dem Bundesrat Beine machen. Es könnte aber sein, dass die Realpolitik beidem zuvorkommt, in Form einer Energiekrise im Winter. Als Folge des Ukraine-Kriegs könnten Strom und Gas knapp werden. In beiden Fällen ist die Schweiz auf Importe aus Europa angewiesen.
Diese Abhängigkeit treibt kuriose Blüten. Ausgerechnet der Verein «Kompass/Europa», hinter dem die Gründer der milliardenschweren Zuger Partners Group stecken, forderte die 246 Parlamentarierinnen und Parlamentarier in einem Brief auf, «mit aller Kraft und mit allen Mitteln» auf ein «separates Interimsabkommen» mit der EU beim Strom hinzuarbeiten.
Bei den Europafreunden im Parlament sorgte das Schreiben für Kopfschütteln und Häme, denn «Kompass/Europa» hatte tatkräftig mitgeholfen, das Rahmenabkommen zu torpedieren. Und die EU-Kommission hat immer wieder betont, ohne Klärung der institutionellen Fragen könne die Schweiz keine neuen Abkommen abschliessen.
Zumindest aber haben die Zuger Milliardäre den Ernst der Lage erkannt, während der Bundesrat weiter herumeiert. Deutlich wurde dies am letzten Mittwoch, als er sich endlich dazu durchringen konnte, das Gas-Sparziel der EU von 15 Prozent zu übernehmen. Er hatte angesichts unserer totalen Importabhängigkeit keine andere Wahl.
Wer aber ein klares Statement in diese Richtung erwartete, konnte lange warten. Energieministerin Simonetta Sommaruga (SP) druckste herum und meinte, die Schweiz spare primär für sich selbst. Das mag zutreffen, dennoch verdeutlichte dieser Auftritt, wie sehr der Bundesrat in der Europapolitik von Zaghaftigkeit und sogar Angst geleitet wird.
Dabei hat der Ukraine-Krieg aufgezeigt, dass die Schweiz auch politisch von der Europäischen Union abhängig geworden ist. Nach anfänglichem Zögern konnte der Bundesrat nicht anders, als ihre Sanktionen gegen Russland vollumfänglich zu übernehmen. Nun muss er hoffen, dass wir im kommenden Winter von einer schweren Energiekrise verschont bleiben.
Europapolitik ist für «gewöhnliche» Stimmbürgerinnen und Stimmbürger eine abstrakte Materie. Kalte Wohnungen und stillgelegte Fabriken aber verstehen alle. Niemand wünscht sich ein solches Szenario, und doch wäre es eine bösartige Ironie, wenn der Bundesrat dadurch gezwungen wäre, den Elefanten im Raum wahrzunehmen. Und ihn wegzuschieben.
Es kann aber auch künftig nicht sein, dass wir die Unionsbürgerrichtlinie 1:1 übernehmen müssen und den Lohnschutz aufgeben sollen.