Einmal mehr stellt sich die Frage: Ist das Glas halb voll oder halb leer? Die Einschätzungen zur Ukraine-Konferenz auf dem Bürgenstock jedenfalls gehen auseinander. Die einen halten es für einen Erfolg, dass das Treffen stattfand und mehr als 80 Staaten und Organisationen die Schlusserklärung unterzeichnet haben. Andere sind eher ernüchtert.
Für sie war die Konferenz höchstens ein kleiner Schritt hin zu einem Frieden in der Ukraine, wenn überhaupt. Organisatorisch immerhin hat die Schweiz brilliert. Sie hat in der relativ kurzen Zeit von fünf Monaten einen Grossanlass auf die Beine gestellt, wie es ihn hierzulande noch nie gegeben hat. Der Austragungsort aber sandte ein spezielles Signal aus.
Das katarische Luxusresort auf dem idyllischen Bergrücken in Nidwalden steht in krassem Gegensatz zum Horror, den die Ukraine tagtäglich durch russische Angriffe am Boden und aus der Luft erleiden muss. Dafür kann das Gastgeberland nichts, doch in gewisser Weise steht der Bürgenstock für die Schweizer Mentalität und ihren Hang zur Nabelschau.
Viele würden sich am liebsten in unser «Petit Paradis» zurückziehen, wie es der frühere FDP-Bundesrat Johann Schneider-Ammann genannt hatte, und nichts zu tun haben mit den Widrigkeiten der Geopolitik. In der neuen Weltunordnung mit Kriegen und Migrationsströmen gilt dies erst recht. Die SVP verkörpert diese Mentalität, doch nachhaltig ist sie nicht.
Gewichtige Staaten aus dem Süden wollten die Schlusserklärung nicht unterzeichnen. Einzelne Kommentatoren taten so, als wäre dies eine Lappalie, doch davon kann keine Rede sein. Es zeigt, dass sich die Schweiz und vor allem Bundespräsidentin Viola Amherd etwas gar leichtfertig vor Wolodymyr Selenskyjs Karren spannen liessen.
Entsprechend einseitig wurde die Konferenz von Ländern wahrgenommen, die sich nicht auf Kollisionskurs mit Russland begeben wollen. Dabei hat das Aussendepartement EDA versucht, die Konferenz so «mehrheitsfähig» wie möglich zu machen. Auch das Timing war klug: Sie fand nach Abschluss des diesjährigen G7-Gipfels in Italien statt.
An diesem nehmen seit Beginn des Ukraine-Kriegs auch Staats- und Regierungschefs aus dem Globalen Süden teil. In diesem Jahr etwa jene von Brasilien, Indien, Jordanien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten. Doch keiner von ihnen konnte sich dazu durchringen, auf den Bürgenstock weiterzureisen. Sie schickten zweit- oder drittrangige Vertreter.
Selbst Recep Tayyip Erdogan, der Staatschef des NATO-Mitglieds Türkei, glänzte in der Innerschweiz durch Abwesenheit. Einzig die Präsidenten Argentiniens und Kenias liessen sich zu einer Teilnahme an der Konferenz bewegen. Saudi-Arabien schickte immerhin den Aussenminister und markierte seine Ambitionen auf die Austragung eines Folgetreffens.
Russland hingegen wollte Selenskyj auf keinen Fall dabeihaben. Man ist geneigt, dem früheren Botschafter Thomas Borer zuzustimmen, der dies in der «Sonntagszeitung» als taktischen Fehler bezeichnete: «Moskau hätte diese Einladung wohl abgelehnt und hätte sich dadurch noch mehr ins Abseits gestellt. Das wäre gut für die Schweiz gewesen.»
Den gleichen Effekt hätte es gehabt, wenn die Russen gekommen wären und sich absehbar destruktiv verhalten hätten. Einen wichtigen, aber kaum beachteten «Nebenaspekt» hatte die Konferenz immerhin: China hat mit seiner Absage die Maske fallen lassen und sich definitiv als Verbündeter Russlands geoutet. Seine angebliche Neutralität ist nur Heuchelei.
Für China ist Russland der zentrale Partner im Bestreben, eine «multipolare» Weltordnung zu errichten. Der erklärte Gegner in diesem Szenario sind die USA. Dies könnte zu einer neuen Blockbildung führen, die eine Herausforderung für Europa wäre – und die Schweiz. Sie hält sich aus wirtschaftlichen Gründen mit Vorliebe alle Optionen offen.
Sollten sich die bedrängten westlichen Demokratien enger zusammenschliessen, könnte dies zum Problem werden. Umso wichtiger wäre es, das Verhältnis zur Europäischen Union zu klären. Doch was man dazu hört und liest, ist oft durch Klischees über «fremde Richter» geprägt. Das Wissen über die realen Verhältnisse in der EU ist erschütternd gering.
Viel zu leichtfertig werden die Narrative von SVP oder Gewerkschaften übernommen. Auch darin zeigen sich unsere Mühen mit der Geopolitik. Die EU ist sicher nicht in Bestform, wie die Europawahl gezeigt hat. Aber ist sie widerstandsfähiger, als viele in der Schweiz meinen. Die Debatte über die Europapolitik sollte mit mehr Weit- und Klarsicht geführt werden.
Im Verhältnis zur Aussenwelt kommt uns immer wieder die Neutralität in die Quere. Früher galt in bürgerlichen Kreisen die Devise, die beste Aussenpolitik für die Schweiz sei gar keine Aussenpolitik. Die Beziehungen zum Ausland sollten primär wirtschaftlich sein. Manche trauern noch heute dem früheren Bundesamt für Aussenwirtschaft (BAWI) nach.
In der heutigen Welt, die zugleich eng verflochten und zunehmend disparat ist, muss die Schweiz ihren Kompass neu ausrichten. Das fällt selbst dem Bundesrat schwer. Vor zwei Jahren liess er Aussenminister Ignazio Cassis mit seinem Neutralitätsbericht auflaufen und klammerte sich an die Neutralitätspraxis, die 1993 formuliert worden war.
Es war die Zeit nach dem Kalten Krieg, als vermeintlich der «ewige Frieden» ausgebrochen war. Das hat sich als Illusion erwiesen. Auch wenn Cassis’ Konzept der «kooperativen Neutralität» faktisch umgesetzt wird, wofür die Bürgenstock-Konferenz exemplarisch steht, sollte der Bundesrat endlich sein Verständnis von Neutralität der heutigen Zeit anpassen.
Spätestens in der Debatte über die Neutralitätsinitiative aus dem SVP-Umfeld ist dies fällig. Aber eigentlich müsste es heute schon passieren. Sonst könnte der Goodwill, den die Schweiz auf dem Bürgenstock durch die G7-Staaten erfahren hat, schon bald wieder der drängenden Frage weichen: Tut ihr eigentlich genug für die Ukraine?
Verteidigen sollen und müssen wir uns.