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Schweizer Neutralität: Bundesrat sendet zwei unterschiedliche Signale

Was beinhaltet die Schweizer Neutralität? Bundesrat sendet zwei unterschiedliche Signale

Die Landesregierung hält am Neutralitätsbegriff von 1993 fest und teilt Cassis' Idee der kooperativen Neutralität eine deutliche Abfuhr. Dennoch will sie aber stärker mit der Nato kooperieren.
07.09.2022, 22:2007.09.2022, 22:32
Doris Kleck / ch media
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Seit über einem halben Jahr herrscht Krieg in Europa. Der russische Angriff auf die Ukraine hat auch in der Schweiz Gewissheiten zu Fall gebracht. Wie haben wir es mit der Neutralität? Ist es richtig, dass wir keine Schutzwesten in die Ukraine liefern? Den Dänen die Wiederausfuhr des Radpanzers Piranha verbieten? War die Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland eine Zeitenwende?

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Sein Begriff der «kooperativen Neutralität» fand im Bundesrat keine Fürsprecher: Aussenminister und Bundespräsident Ignazio Cassis.Bild: keystone

Das Ausland beobachtet genau, wie sich die Schweiz positioniert. Dass der Bundesrat vier Tage brauchte, um seine Sanktionspolitik gegen Russland festzulegen, kam bei westlichen Partnern schlecht an. Als Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis im Mai am Weltwirtschaftsforum in Davos auftrat, musste er die Schweizer Neutralität erklären.

Er benutzte dafür ein neues Adjektiv: kooperativ. So soll die Schweizer Neutralität sein. Cassis sagte: «Diese kooperative Neutralität entspricht der Schweiz. Kooperativ als neutrales Land, das sich für die Stärkung eigener und gemeinsamer Grundwerte einsetzt. Kooperativ als neutrales Land, das sich für die Sicherung eigener und gemeinsamer Friedensbemühungen einsetzt. Kooperativ als neutrales Land, das sich für eine regelbasierte und stabile Sicherheitsarchitektur einsetzt, die nur multilateral entstehen kann.»

Cassis blitzt im Bundesrat deutlich ab

Ein neuer Begriff war geboren. Er fand auch Eingang im Bericht zur Neutralitätspolitik, den der Bundesrat zuletzt diskutierte. Der Bericht, verschiedene Medien berichteten bereits vor Wochen darüber, enthielt fünf Optionen. Die «zielführendste» sei die «kooperative Neutralität», hielt das Aussendepartement fest. Das sei eine Weiterentwicklung des Status quo.

Der Export von Rüstungsmaterial an Kriegsparteien bliebe zwar verboten; in anderen Bereichen sollte der Bundesrat aber mehr Handlungsspielraum bekommen. So müsse die Schweiz beim Export von Rüstungsgütern auf ein Wiederausfuhrverbot verzichten können. Auch könnte sich die Schweiz stärker mit der EU oder der Nato abstimmen, um mehr Mitverantwortung für die Sicherheit in Europa zu übernehmen.

Nur: Der Bundesrat hat kein Inte­resse an einer neuen Ausgestaltung der Neutralität. Wie mehrere Quellen bestätigen, fand Cassis keinen einzigen Fürsprecher unter seinen sechs Kollegen. Die beiden SVP-Bundesräte Ueli Maurer und Guy Parmelin sowie SP-Bundesrat Alain Berset machten ihre ablehnende Haltung in einem Mitbericht deutlich.

Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Neutralitätspolitik, wie sie seit dem Neutralitätsbericht von 1993 definiert und praktiziert wird, der Schweiz einen genügend grossen Handlungsspielraum lässt – selbst um auf die Ereignisse seit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine zu reagieren. Cassis erlitt damit eine deutliche Abfuhr. Er schreibt kein neues Kapitel in der Geschichte der Neutralität

Amherd will stärker mit der Nato und der EU zusammenarbeiten

FDP-Präsident Thierry Burkart begrüsst den Entschluss. Er sagt, dass der Entscheid zur Übernahme der EU-Santionen gegenüber Russland im Ausland falsch verstanden worden sei: «Die Schweiz hat ihre Neutralitätspolitik aber nicht geändert. Gerade deshalb ist es richtig, dass der Bundesrat betont: Unsere Neutralität bleibt gleich. Wir brauchen kein neues Label dafür.»

Bundesraetin Viola Amherd spricht neben Thomas Suessli, Chef der Armee, waehrend einer Medienkonferenz zum Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 ueber die Folgen des Krieges in der Ukr ...
Bundesrätin Viola Amherd stellte am Mittwoch den Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht vor.Bild: keystone

Das sagt auch Mitte-Präsident Gerhard Pfister. Er betont: «Entscheidend ist ohnehin nicht die abstrakte Definition der Neutralität, sondern wie sich die Schweiz im konkreten Fall verhält» Burkart sagt es so: «Wir müssen praktische politische Aspekte innerhalb der Neutralität diskutieren wie eine stärkere Zusammenarbeit mit der Nato.»

Genau dies will auch der Bundesrat. Verteidigungsministerin Viola Amherd legte gestern einen Zusatzbericht zur Sicherheitspolitik vor, mit den Lehren des Ukraine-Kriegs für die Schweiz. Ihre Botschaft lässt sich in einem Wort zusammenfassen: eine verstärkte internationale Zusammenarbeit – sprich Kooperation.

Mit der EU, vor allem aber auch der Nato. Dazu gehört etwa eine verstärkte Teilnahme an Übungen, eine Ausweitung der militärischen Zusammenarbeitsfähigkeit auf verteidigungsrelevante Bereiche oder eine Intensivierung des Partnerschaftsstatus bei der Nato.

Neutralitäts-Diskussion ist noch nicht vom Tisch

Keine kooperative Neutralität, aber mehr Kooperation mit der Nato. Ein Widerspruch? Nein, findet Amherd. Das aktuelle Neutralitätskonzept lasse eine verstärkte Zusammenarbeit zu. Ob der Begriff kooperative Neutralität nicht ehrlicher wäre? Nein, findet Amherd auch in diesem Punkt und platziert einen Seitenhieb auf Kollege Cassis: «Labels spielen keine Rolle. Wir müssen nur wissen, was das Konzept von 1993 zulässt und was nicht.»

Das Thema Neutralität wird die Schweiz aber auch künftig nicht loslassen. Spätestens, wenn Christoph Blocher seine Neutralitäts-Initiative einreicht, wird der Bundesrat deutlicher Stellung beziehen müssen. Und auch Mitte-Präsident Pfister hält fest: «Wenn der Bundesrat meint, damit sei die Diskussion über die Rolle der Schweiz in der Welt beendet, dann täuscht er sich. Die Welt hat sich verändert. Die Antworten aus den 90er-Jahren genügen nicht mehr für die Fragen des 21. Jahrhunderts.» Affaire à suvire. (bzbasel.ch)

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39 Kommentare
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Liebu
07.09.2022 22:46registriert Oktober 2020
Ja. Der Chrigi wird seine Neutralität wohl Gewinnorientierte Neutralität nennen müssen. Ein anderer Name kommt mir für sein Ansinnen nicht in den Sinn.
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