Florian stammt aus dem Vorarlberg. Er arbeitet seit einigen Wochen bei uns. Kürzlich unterhielten wir uns über die eidgenössischen Wahlen vom kommenden Sonntag. Obwohl in einem grenznahen Gebiet aufgewachsen, war Florian ziemlich erstaunt, als ich ihm erzählte, nach den Wahlen werde erst einmal nichts passieren. Aus seiner Heimat ist er sich anderes gewohnt.
In Österreich muss Wahlsieger Sebastian Kurz entscheiden, mit wem er eine Regierung bilden will. Er hat diverse Optionen, es dürfte ein langwieriger und spannungsgeladener Prozess werden. Bei uns hingegen stellt sich die Regierungsfrage nicht. Ein Rücktritt aus dem Bundesrat ist nicht in Sicht, die Gesamterneuerungswahl im Dezember wird an der Parteienkonstellation nichts ändern.
Vielleicht werden die Grünen ein wenig mit den Muskeln spielen. Sie dürften an der bürgerlichen Phalanx abprallen. Bundesratswahlen sind ohnehin überbewertet. Was nicht heisst, dass die personelle Zusammensetzung der Landesregierung unbedeutend wäre. Aber über die grossen politischen Fragen entscheiden nicht Bundesrat und Parlament, sondern das Stimmvolk.
Deshalb war das wichtigste Ereignis vor vier Jahren nicht der Triumph der SVP mit fast 30 Prozent Wähleranteil, und auch nicht die Rückeroberung ihres zweiten Sitzes im Bundesrat mit Guy Parmelin. Sondern der erste Abstimmungstermin der Legislatur am 28. Februar 2016, als die SVP mit ihrer Durchsetzungsinitiative ungebremst auf den nächsten grossen Sieg zuzusteuern schien.
Wer weiss, welche Dynamik in diesem Fall entstanden wäre. Spekulationen sind müssig, denn was damals geschah, wirkt auch mit fast vier Jahren Abstand erstaunlich bis surreal. Die «Süddeutsche Zeitung» brachte es auf den Punkt: Der 28. Februar 2016 wurde zu jenem Tag, «an dem die Angst vor den Rechtspopulisten erstmals grösser war als die Angst vor den Ausländern».
Das Scheitern ihrer «unschlagbaren» Durchsetzungsinitiative warf die SVP aus der Bahn. Die grosse Wahlsiegerin brachte kaum etwas auf die Reihe. Im Parlament war sie oft isoliert. Bei wichtigen Themen wie der AHV-Steuervorlage fuhr sie einen Slalomkurs und alle Abstimmungen zu ihren Kernthemen gingen verloren. Der Rechtsrutsch im Parlament geriet zum Flop.
Der Blindflug der SVP muss allen zu denken geben, die sich vom absehbaren Links- oder vielmehr Grünrutsch Grosstaten etwa in der Klimapolitik erhoffen. Die nationale Klimademo mit je nach Lesart 60'000 bis 100'000 Teilnehmenden war der eindrückliche Höhepunkt eines bewegten Jahres. Die beiden Grün-Parteien werden in einer Woche zweifellos zulegen.
Zu viel Zuversicht ist trotzdem fehl am Platz. Der Politgeograf Michael Hermann warnte in seiner «Tages Anzeiger»-Kolumne vor der «Stimmungsfalle» und der damit verbundenen Absturzgefahr. Konkret verwies er auf den «Flüchtlingssommer» vor vier Jahren und die «Refugees welcome»-Euphorie. Manche glaubten allen Ernstes, sie werde der SVP bei den Wahlen schaden.
Ich konnte mit dieser Befindlichkeit nichts anfangen. Mir war bewusst, dass ausserhalb dieser Multikulti-Filterblase eine Schweiz existierte, der die Bilder des Flüchtlingstrecks auf der Balkanroute Angst einjagten. Sie verhalfen der SVP zum Wahlsieg. Wäre es bei uns zu ähnlichen Szenen wie in Deutschland gekommen, hätte sie die 30-Prozent-Marke wohl locker geknackt.
Das jüngste SRG-Wahlbarometer liefert Hinweise, dass die Klimadebatte einen ähnlichen Backlash auslösen könnte, wenn auch nicht im damaligen Ausmass. Die SVP könnte Stimmen von bürgerlichen Protestwählern gegen den «Klimahype» bekommen. Es wäre ein Hohn, wenn sie nach einer derart desaströsen Legislatur noch profitieren könnte. Aber es ist nicht undenkbar.
Dazu beitragen könnte auch der «inhaltsleere Wahlkampf», den CVP-Präsident Gerhard Pfister in seinem Sessionsbericht in Cham diagnostiziert hat. Tatsächlich wurde bestürzend wenig über konkrete Inhalte geredet. Selbst die Klimadebatte verlief oberflächlich. Die Kampagnen der Parteien erschöpften sich weitgehend in Schlagworten und Sauglattismen.
Dabei steht die Schweiz vor grossen Herausforderungen, nicht nur beim Klima. In Altersvorsorge, Gesundheitswesen und Europapolitik sind in den nächsten vier Jahren wichtige Weichenstellungen angesagt. Im Wahlkampf hörte man kaum etwas dazu. Praktisch inexistent war die Digitalisierung und die mit ihr verbundenen Herausforderungen für Wirtschaft und Gesellschaft.
Die Lösungsfindung dürfte nicht einfach werden, denn während sich im Nationalrat ein Linksrutsch abzeichnet, könnte es im Ständerat, der in den letzten vier Jahren zum Taktgeber wurde, zu einem gegenteiligen Effekt kommen. Die SP wird Mühe haben, ihre Rekordzahl von zwölf Sitzen zu verteidigen, und für die Grünen werden die Bäume erst recht nicht in den Himmel wachsen.
Das Parlament ist in unserer (halb-)direkten Demokratie keine unwichtige Institution, im Gegenteil. Aber am Ende entscheidet das Volk. Was vor vier Jahren die Durchsetzungsinitiative war, könnte in der neuen Legislatur das CO2-Gesetz werden. Obwohl der Ständerat in der Herbstsession das Debakel im Nationalrat ausbügeln konnte, ist die Absturzgefahr keineswegs gebannt.
Die Befürworter fürchten bereits die nächste Runde im Nationalrat im kommenden Frühjahr. Die Wirtschaftsverbände, die marktwirtschaftliche Instrumente nur befürworten, wenn sie nichts kosten, dürften aus ihrer Deckung hervorkommen. Weil die CVP eine Belastung der Randregionen ablehnt, könnte die durchaus ambitionierte Vorgabe des Ständerats verwässert werden.
Eine absehbare Volksabstimmung, die kaum vor 2021 stattfinden dürfte, wird ebenfalls kein Spaziergang. Warnsignale gibt es. In mehreren Kantonen, darunter Bern und Solothurn, ist die Umsetzung der Energiestrategie 2050 abgelehnt worden. Die Klimadebatte mag die Sensibilität für das Thema erhöht haben, aber am Ende entscheidet meistens das Portemonnaie.
Nach den Wahlen am kommenden Sonntag wird sich fürs Erste wenig ändern. Wenn sich bei den grossen Themen aber wirklich etwas bewegen soll, muss die Bereitschaft zu konstruktiver Politik und Kompromissen wiederbelebt werden, die in den letzten Jahren zu oft dem Drang zur Profilierung unterlag. Mit unsrer Stimmgabe können wir einen wichtigen Beitrag dazu leisten.