
Sag das doch deinen Freunden!
Kurz nach 10 Uhr war das Rennen bereits gelaufen. Die Aargauer Gemeinde
Hirschthal vermeldete für die Durchsetzungs-Initiative ein Ergebnis
von 430 Ja zu 353 Nein. An sich keine Überraschung, doch der hohe
Nein-Anteil in einer ländlich-konservativen Ortschaft gab die
Richtung vor: Die SVP hat ausgerechnet in der Ausländerpolitik eine
Schlappe erlitten.
Zu Beginn des Jahres
hätte man kaum einen Rappen auf ein Nein gewettet. Die
Silvesternacht von Köln schien der SVP einen komfortablen Sieg zu
bescheren. Seither aber ist eine Dynamik entstanden, wie sie die
Schweiz noch nie erlebt hat. Es war der denkwürdigste
Abstimmungskampf seit der EWR-Schlacht von 1992. Darf man
von einem historischen Entscheid sprechen, jetzt wo das Ergebnis noch
taufrisch ist? Man darf, mehrere Gründe sprechen dafür:
In einer Zeit, in
der europaweit unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise
rechtspopulistische und nationalistische Parteien auf dem Vormarsch
sind, hat das Schweizer Stimmvolk ein starkes Signal in die
Gegenrichtung ausgesandt. Sie hat der SVP die rote Karte auf einem
Terrain gezeigt, auf dem sie scheinbar nicht verlieren konnte. Das
sollte man in Brüssel zur Kenntnis nehmen. Die Helvetier sind nicht
nur notorische Querulanten, sie können auch anders.
Jetzt stürmen wir die Urnen und gewinnen diese wichtige Abstimmung. https://t.co/UN9sC30mgs #DSINein #DSI pic.twitter.com/thWtmsdh6e
— #DSINein (@DSI_Nein) February 26, 2016
Die Gegner der
Durchsetzungs-Initiative führten ihre Kampagne vorwiegend im Internet
und in den sozialen Netzwerken. Sie sammelten mit dem «dringenden
Aufruf» fast 1.2 Millionen Franken und erreichten via WhatsApp,
Snapchat und Instagram eine jüngere, politikferne
Generation. Auch wenn eine vertiefte Analyse noch aussteht, darf man
die These wagen: Erstmals in der Geschichte der Schweiz wurde eine
Abstimmung durch Social Media entschieden.
In den letzten 15
Jahren hat das Stimmvolk wiederholt Initiativen angenommen, die auf
eine Verschärfung des Strafrechts und eine härtere Gangart
gegenüber Ausländern abzielten. Nun hat es sich auf zwei
urschweizerische Tugenden besonnen: Augenmass und gesunder
Menschenverstand. Mit der Härtefallklausel im «pfefferscharfen» Ausschaffungsgesetz hat die Justiz ein Instrument zur Verfügung, das
eine pragmatische Anwendung ermöglicht.
Die Botschaft der
Durchsetzungs-Initiative war klar: Ausländer raus! Jawohl, Ausländer,
nicht «kriminelle» Ausländer! Denn das SVP-Begehren zielte in
letzter Konsequenz auf alle Menschen ohne Schweizer Pass. Das
engagierte Votum des Berner Secondos Alessandro Valdettaro in der
zweiten DSI-«Arena» zeigte dies in aller Deutlichkeit.
Die vermeintliche
Beschwichtigung «Wer unbescholten ist, hat nichts zu befürchten» ist in Tat und Wahrheit ein Befehl: Benehmt euch, sonst fliegt ihr
raus! So geht man nicht um mit Menschen, die jene Arbeiten
verrichten, die Schweizer nicht machen können oder wollen, und die
in diesem Land konsumieren und Steuern zahlen.
Die sonst so
instinktsichere SVP hat mit ihrer Initiative einen Murks produziert.
Der ausführliche Deliktekatalog sorgte nicht für klare
Verhältnisse, sondern eröffnete den Gegnern jede Menge
Angriffsflächen. Wenn die SVP sich über Beispiele wie den
Apfeldiebstahl beklagte, mochte sie in der Sache recht gehabt haben.
Letztlich aber ist sie selber schuld daran.
Und dass sich
Exponenten der Partei öffentlich widersprochen haben (Sollen
Secondos und Jugendliche ausgeschafft werden oder nicht?),
verunsicherte selbst Befürworter der Initiative. Die SVP ist
allerdings lernfähig, sie wird diese Fehler nicht wiederholen. Das
Ergebnis muss ihr trotzdem zu denken geben: In der Ausländer- und
Aussenpolitik ist die SVP in den letzten Jahren mit Erfolgen verwöhnt
worden. Nun hat das «Volk» sie in die Schranken
gewiesen.
Im Nationalrat
wollten die Mitteparteien im ersten Anlauf vor der SVP kapitulieren
und die Durchsetzungs-Initiative eins zu eins ins Ausschaffungsgesetz
übernehmen. Es brauchte den Ständerat, um FDP und CVP zur Vernunft
zu bringen. Am Ende stimmten sie der Härtefallklausel zu. Als erste
Umfragen ein klares Ja zur Durchsetzungs-Initiative prognostizierten,
dominierten erneut die defätistischen Töne, von löblichen
Ausnahmen wie dem Ausserrhoder FDP-Ständerat Andrea Caroni
abgesehen.
Dank dem engagierten
Einsatz der zivilgesellschaftlichen Gruppen wie Operation Libero
schafften zumindest die Freisinnigen gerade noch die Kurve.
Parteichef Philipp Müller warf sich ins Getümmel und brachte seine
Basis, die eine starke Ja-Tendenz aufwies, auf Vordermann. Trotzdem
müssen FDP und CVP über die Bücher gehen. Zu oft haben sie in den
letzten Jahren in der Asyl- und Ausländerpolitik vor der SVP
gekuscht. Das Gleiche gilt für die Wirtschaft und ihre Verbände.
Der Hauptteil der
Lorbeeren gebührt jenen vielfältigen Kräften, die eine
beeindruckende Kampagne von unten lanciert und zum Erfolg geführt
haben. Sie haben bewiesen, dass die Schweizer Demokratie lebt und
Auswüchse zu korrigieren vermag. «Wenn wir soweit sind, dass wir
aus der Defensive herauskommen und mit der Gestaltung der Zukunft
einer modernen, weltoffenen Schweiz beginnen können, dann haben wir
tatsächlich ein wichtiges Ziel erreicht», heisst es in einer
Mitteilung des NGO-Komitees gegen die DSI.
Partystimmung bei @operationlibero @watson_news pic.twitter.com/tLrv9l6jQ4
— Daria Wild (@dabladaria) February 28, 2016
An Herausforderungen mangelt es nicht. Schon im Juni wird über das
revidierte Asylgesetz abgestimmt, gegen das die SVP das Referendum
ergriffen hat. Und bald wird die Schweiz ihr künftiges
Verhältnis zur Europäischen Union definieren müssen. Das
Kräftemessen zwischen den restaurativen und progressiven Kräften
wird weitergehen.
Der Sieg bei der
Durchsetzungs-Initiative aber ist Anlass zur Hoffnung. Und vielleicht
hat die Schweiz-Korrespondentin der «Süddeutschen Zeitung» recht
und das Resultat ist aus einem weiteren Grund historisch: Der 28.
Februar 2016 wird demnach als jener Tag in die Geschichte eingehen, «an dem die Angst vor den Rechtspopulisten erstmals grösser war
als die Angst vor den Ausländern».