630'000 Genossenschafterinnen und Genossenschafter haben entschieden. Und zwar deutlich: Das Feierabendbier hat nichts in den Regalen der Migros verloren. Über 75 Prozent der Wählenden hat Nein gesagt.
Das dürfte nicht nur den alten Duttweiler im Himmel freuen, sondern auch die Migros selbst. Zwar kam es erst zur Abstimmung, weil die Verwaltung des Migros-Genossenschafts-Bunds (MGB) und zehn regionale Verwaltungen das Verbot kippen wollten, doch allzu traurig ob der verlorenen Abstimmung dürfte der MGB nicht sein.
Denn mit der Frage nach einer Aufhebung des Alkoholverbots ist der Migros ein gigantisches Marketing-Meisterstück gelungen. Die Schweizer Mediendatenbank verzeichnet in den letzten 12 Monaten über 2500 Artikel in Schweizer Zeitungen und Onlinemedien über die Abstimmung. Die SRF-«Arena» widmete dem Thema eine ganze Sendung.
Eine solche Öffentlichkeit zu generieren, ist der Wunschtraum eines jeden Unternehmens. Die Migros hat dies sogar ohne grossen finanziellen Aufwand geschafft. Dazu eine kleine Milchbüchleinrechnung: Hätte man die 2500 Artikel bei watson als bezahlte Promo-Beiträge eingekauft, so hätte dies knapp 24 Millionen Franken gekostet. Bei grösseren Medien wie «20 Minuten» deutlich mehr, bei kleineren weniger.
«Der Migros ist ein PR-Coup gelungen», sagt deswegen auch Johanna Gollnhofer, Professorin für Marketing an der Universität St.Gallen. Die Detailhändlerin habe es geschafft, ohne grosses Zutun eines der meistdiskutierten Themen des Jahres zu etablieren. So was nennt man im Anglizismus-lastigen Marketing-Sprech «Earned Media». Damit bezeichnet man das Phänomen, dass Nutzer oder Medien die Inhalte einer Marke selbst verbreiten und somit zum Kanal werden.
Es gibt noch zwei weitere Medientypen: «Owned Media» und «Paid Media». In erstere Kategorie fallen Inhalte, die eine Marke auf eigenen Kanälen verbreitet, im Falle der Migros zum Beispiel auf ihrer Homepage oder in der Migroszeitung. «Paid Media» bezeichnet bezahlte Inhalte wie Werbespots.
Die Migros hat zwar auch kräftig die Werbetrommel gerührt für die Abstimmung, doch die meiste Öffentlichkeit kam ohne ihr Mitwirken. «‹Earned Media› ist am härtesten zu erreichen, dafür aber auch am effektivsten», sagt Johanna Gollnhofer.
Ob das beabsichtigt war oder nicht, darüber möchte Gollnhofer nicht spekulieren. Nur so viel: «Die Migros hat sehr viel Aufmerksamkeit generiert, für die sie nicht bezahlen musste. Ich kann mir vorstellen, dass die Detailhändlerin von den Resultaten nicht gross überrascht war, da das Verbot von Alkohol in den Unternehmenswerten tief verankert ist».
Der Gedanke, dass die Migros sich sehr wohl bewusst war, dass eine Aufhebung des Alkoholverbots keine Chance hat, man es aus PR-strategischen Überlegungen aber trotzdem zur Abstimmung brachte, scheint auf jeden Fall nicht sehr abwegig. Vor allem, wenn man sich die Abstimmungsresultate ansieht: Das Ja einer Zweidrittelmehrheit wäre nötig gewesen, eine Dreiviertelmehrheit hat es aber abgelehnt.
Die Abstimmung sei allerdings auch aus anderen Gründen spannend, sagt Johanna Gollnhofer. «Aus rein klassischer Marketingperspektive ist die Ansicht weitverbreitet, dass man Kundenbedürfnissen möglichst immer folgen und das Leben der Kundschaft möglichst einfach und bequem machen sollte.»
Die Abstimmung beweise jedoch, dass ‹Convenience› nicht das einzige Kundenbedürfnis sei. «Das Resultat zeigt, dass Werte einen grossen Einfluss auf das Kaufverhalten der Konsumenten haben», so Gollnhofer.
Die Migros hat ihr mantraartig wiederholtes Argument, dass es nur deswegen im März Erdbeeren und Fleisch aus Südamerika gibt, weil die Kunden das so wollen, also ein wenig selbst sabotiert.
Doch das dürfte ihr kaum schaden. Dafür war diese Kampagne zu perfekt. «Dass Konsumenten mitentscheiden, spielt schön in den Mythos der demokratischen Schweiz», sagt die Marketingexpertin. «Doch in der Realität sieht man es nicht jeden Tag, dass man über grosse, strategische Grundsatzentscheidungen die Konsumenten mitbestimmen lässt.» Die Migros konnte sich zudem in ihren Kern-Markenwerten, in ihrem Image als soziale Genossenschaft, stärken.
Dabei hatten die Schweizerinnen und Schweizer schon immer ein sehr positives Bild der Migros, das zeigen etliche Umfragen. Mit dieser Abstimmung dürfte sich das Image noch einmal verbessert haben. «Bei Nestlé hätte eine solche Aktion vielleicht zu einer Kehrtwende geführt, bei der Migros hat es Vorhandenes gestärkt», sagt Gollnhofer.
In den Chefetagen der Migros-Genossenschaften kann man also getrost anstossen. Den Champagner dafür muss man sich jedoch im Denner kaufen gehen.
Dass sich die Klatsche der GenossenschafterInnen an die 11 Gremien (Genossenossenschaften + MGB) nun als riesige PR entpuppte, war ein glücklicher "positive side-effect", nicht mehr und nicht weniger.