Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) meldete sich vor einigen Tagen bei watson mit dem Vorschlag, doch einmal über den Reichtum in der Schweiz zu schreiben. Mit dabei in der Anfrage war ein siebenseitiges PDF, vollgespickt mit Grafiken, Fussnoten und Erläuterungen, die vor allem eins zeigen sollten: Die Reichen werden immer reicher.
Die Motivation des Gewerkschaftsbunds ist klar: Mit Zahlen soll das Volk Argumente kriegen, die für ein «Ja» zur 99-Prozent-Initiative (auch Juso-Initiative genannt) sprechen. Bei einer solchen parteiischen Analyse ist für Journalistinnen und Journalisten immer Vorsicht geboten. Insbesondere dann, wenn mit Grafiken jongliert wird und parteiische Organisationen eigene «Berechnungen» vornehmen.
Es war deshalb Zeit für eine eigene Datenrecherche. Eine, wo Daten sprechen sollten, die möglichst nicht von einem Abstimmungskomitee kommen. Fündig wird man bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV), die beim Finanzdepartement eingegliedert ist. Dieses wird seit über 25 Jahren von FDP-, BDP- und SVP-Vertretern geführt und weiss in der Schweiz am besten, wie es um das Vermögen der Steuerzahlenden steht.
Seit 1969 publiziert die ESTV unregelmässig, ab 2003 sogar jährlich, solche Tabellen – früher sogar im hübschen Schreibmaschinen-Look:
Diese Vermögensstatistiken basieren auf den Steuererklärungen von allen Menschen in der Schweiz. Dabei wird jeweils auf das Reinvermögen geguckt – sprich: Wie viel Vermögen hat man nach Abzug von Schulden noch übrig? Wie viel Vermögen versteuert man tatsächlich?
Das ist ein wichtiger Punkt fürs Verständnis. Es sagt nämlich etwas über die «Häuslibauer» aus: Die Durchschnitts-Mittelstandsfamilie mit einem eigenen Haus dürfte nämlich wegen den Schulden (Hypothek) nicht als «reich» erfasst worden sein. Sprich: Wer in dieser Statistik mit einem Vermögen erfasst ist, besitzt es auch. Und davon gibt es mit 1,9 Billionen Franken genug in der Schweiz.
Wir sind ein reiches Land. Und wer reich ist – so sagt man – wird auch reicher. Laut aktuellstem Stand (2017) besitzen wir alle rund 375'000 CHF Reinvermögen. Also abzüglich Schulden und so.
Eine wahrlich hübsche Summe – die wahrscheinlich bei vielen von uns überhaupt nicht zutrifft. Durchschnittszahlen sind bei solchen Betrachtungen immer schlecht, vor allem, wenn die Daten so weit auseinander liegen.
Über 1,2 Millionen der Steuerzahlenden hat nämlich gar kein Vermögen oder ist verschuldet. Darunter sind auch die erwähnten «Häuslibauer». Vier Millionen von uns allen – ¾ aller Steuerzahlenden – haben weniger als 200'000 Franken und kommen damit nicht mal in die Nähe des Durchschnitts. Das Vermögen ist woanders zu suchen: Bei einigen wenigen Schwerstreichen.
Die Daten ermöglichen zudem eine Aussage darüber, wie viel die Reichsten der Bevölkerung besitzen. Als politisches Schlagwort wird dabei vom «reichsten ein Prozent» häufig gesprochen, so etwa vor ziemlich genau zehn Jahren, als die «Occupy Wall Street»-Bewegung aufkam und weltweit zu politischen Diskussionen über die Vermögensverteilung führte. So sah das übrigens auf dem Time Square in New York aus:
In der Schweiz entbrannte ebenso eine Gerechtigkeitsdiskussion – welche bald mit der Abstimmung über die sogenannte 99-Prozent-Initiative einen weiteren Höhepunkt erreicht. Die bisherigen Bemühungen, ein anderes Steuersystem einzuführen, brachten nämlich bislang keinen Erfolg, wie eine watson-Auswertung der Steuerdaten seit 1969 zeigt.
Die Finanzkrise 2007/2008 liess das Vermögen des reichsten Ein-Prozent ein bisschen schrumpfen – danach zeigt die Kurve aber nur in eine Richtung: nach oben. Auf deutsch: Das reichste Ein-Prozent konnte zwischen 2009–2017 ihren Anteil am Gesamtvermögen vergrössern. Von 38,3 auf 42,7 Prozent (+4,4 Prozentpunkte).
Was uns zum Ausgangspunkt der Recherche bringt: Flunkern die Gewerkschaften mit ihren Daten zur Ungleichverteilung des Vermögens?
Der Vergleich beider Auswertungen zeigen leichte Unterschiede, was aber mit der Methodik zu tun hat: watsons Methode liefert einen Hinweis darauf, wie ungerecht die Schweiz mindestens ist – genauere Daten gibt es vom Bund bislang nicht.
Unter dem Strich zeigen beide Datenreihen dasselbe: Die Reichen besitzen den immer grösseren Anteil des Kuchens.
Der Gewerkschaftsbund geht in seiner Analyse davon aus, dass die steigende Ungerechtigkeit bei der Vermögensverteilung mit zwei Faktoren zu tun hat:
Die sogenannte «99-Prozent-Initiative» will, so die Argumente des Komitees, diese Vermögensverteilung mit einer stärkeren Vermögenssteuer reduzieren: Wer mit seinem Kapital durch Investitionen oder Aktienkursgewinne sein Vermögen vergrössern kann, soll stärker vom Steueramt zur Kasse gebeten werden.
Wen es genau treffen soll, wird von der Initiative nicht vorgeschrieben. Die Juso schlägt vor, dass alle, die mehr als 100'000 Franken jährlich mit ihrem Vermögen erwirtschaften können, stärker besteuert werden sollten. Solche Gewinne können aber selbst bei einer tiefen Rendite von einem bis drei Prozent nur von Menschen erwirtschaftet werden, die einige Millionen Franken auf der hohen Kante haben – wie die Daten oben zeigen.
Die Gegnerinnen und Gegner äussern sich in ihren Argumentarien nicht direkt zur angestiegenen Ungerechtigkeit bei der Vermögensverteilung. Sie bestreiten jedoch, dass es ein ungerechtes Steuersystem in der Schweiz gibt, das dafür verantwortlich sein solle. Im internationalen Vergleich besteuere die Schweiz gar die Reichen stärker, weil Instrumente wie die Vermögenssteuer gar nicht in allen Ländern existieren würden.
Zudem setzten Gegnerinnen und Gegner auf die Überzeugung, dass Veränderungen in der Vermögensverteilung und eine stärkere Besteuerung der Reichen das unternehmerische Handeln erschweren würde: Die Initiative risikiere Arbeitsplätze, Investitionen und die Standort-Attraktivität. Zudem wird darauf verwiesen, dass die Reichsten bereits heute einen Grossteil der Steuern bezahlen.
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