Als sich die Wahl von Donald Trump zum neuen US-Präsidenten abzeichnete, stand für die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen bereits fest: Auf die Europäer wird etwas zukommen, insbesondere in der Sicherheitspolitik: «Europa muss sich darauf einstellen, dass es besser selber vorsorgt», sagte die CDU-Politikerin am letzten Mittwochmorgen in der ARD.
Jahrzehntelang hatten sich die Europäer unter dem Sicherheitsschirm der USA gemütlich eingerichtet. Nun herrscht Nervosität. An einem hastig einberufenen Sondertreffen der EU-Aussenminister am Sonntag in Brüssel war die Verunsicherung spürbar, zumal niemand genau weiss, was vom Republikaner zu erwarten ist. Er hatte sich im Wahlkampf lobend über den russischen Präsidenten Wladimir Putin geäussert und die NATO-Beistandspflicht angezweifelt.
Am NATO-Hauptsitz ist man alarmiert. Generalsekretär Jens Stoltenberg hielt in der britischen Sonntagszeitung The Observer geradezu beschwörend fest, die Sicherheitslage der NATO-Staaten habe sich in den letzten Jahren «dramatisch verschlechtert». Es sei nicht an der Zeit «den Wert der Partnerschaft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten in Frage zu stellen».
Der Norweger erinnerte daran, dass die nordatlantische Verteidigungsallianz in ihrer 67-jährigen Geschichte nur einmal den Bündnisfall ausgerufen habe – zugunsten der USA, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Mehr als 1000 europäische Soldaten hätten dafür in Afghanistan «den ultimativen Preis bezahlt», betonte Stoltenberg in seinem Gastbeitrag.
Trumps Äusserungen zur NATO waren widersprüchlich. In einem Punkt bewegt sich der designierte US-Präsident im amerikanischen Mainstream: Er fordert, dass die Europäer mehr Geld für ihre Verteidigung ausgeben. In den USA ärgern sich viele darüber, dass das reiche Europa sich 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges immer noch von «Uncle Sam» beschützen lässt.
Der belgische Aussenminister Didier Reynders räumte am Sonntag in Brüssel ein, man wisse seit langem, «dass Europa mehr auf dem Gebiet der Sicherheit und der Verteidigung tun muss». Gefordert ist nicht zuletzt die Europäische Union. Ursula von der Leyen hielt im Tagesspiegel fest, deren militärische Fähigkeiten seien «schwach und wenig strukturiert».
Von einer Europäischen Armee, wie sie etwa EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vorschwebt, will die deutsche Verteidigungsministerin nichts wissen, ebenso wenig von einer Konkurrenz zur NATO. Es gehe «um die Bildung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungsunion, in der wir unsere zivilen Kräfte und Streitkräfte klug aufeinander abstimmen und nutzen». Das Verständnis dafür sei unter den Mitgliedsstaaten «so gross wie nie».
Europa muss aufrüsten, und das könnte Auswirkungen haben auf die Schweiz. Sie ist weder Mitglied der EU noch der NATO, dennoch könnte sie verstärkt in die Pflicht genommen werden. Andernfalls werde sie als Trittbrettfahrerin wahrgenommen, sagte die Aargauer FDP-Nationalrätin Corina Eichenberger, Präsidentin der Sicherheitspolitischen Kommission, der «NZZ am Sonntag».
Sie könne sich vorstellen, dass die Schweiz mehr Gegenleistungen erbringen müsse, weniger in Form von Zahlungen als mit Engagements bei Einsätzen oder in der Ausbildung. SP-Präsident Christian Levrat forderte in der gleichen Zeitung, die Schweiz müsse sich an einem gemeinsamen Sicherheitskonzept der EU beteiligen. «Denn sogar die Verantwortlichen unserer Armee wissen, dass wir alleine nichts ausrichten können», sagte der Freiburger Ständerat.
Derartige Überlegungen sind ein Stich in ein Wespennest, sie tangieren das liebste Dogma der Schweiz, die Neutralität. In der Sicherheitsstudie 2016 der ETH-Militärakademie befürworten satte 95 Prozent der Befragten dieses Prinzip. Die Zustimmung zu einem NATO- oder EU-Beitritt befindet sich hingegen auf einem Rekordtief.
Verdrängt wird dabei gerne, dass sich die Schweiz ihre Neutralität nur leisten kann, weil auch sie vom Schutzschirm von NATO und USA profitiert. Die Vermutungen, dass Europa ein grösseres Engagement verlangen könnte, sind deshalb nicht aus der Luft gegriffen. Bereits 2009 hatte der EU-Aussenbeauftrage Javier Solana erklärt, eine Beteiligung der Schweiz mit Soldaten an der EU-Mission Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias sei «sehr wichtig».
Der Nationalrat torpedierte jedoch eine entsprechende Vorlage, sinnigerweise gegen den Widerstand von SVP-Verteidigungsminister Ueli Maurer. Weil sich das Piraterie-Problem entschärft hat, blieb diese Verweigerungshaltung ohne Folgen. Sollte die «Trump-Doktrin» tatsächlich zu einem zumindest teilweisen US-Rückzug aus Europa führen, könnten derartige Bestrebungen wieder aktuell werden. Die Schweiz müsste vielleicht Soldaten nach Osteuropa entsenden.
Sollte derartige Forderungen in Bern eintreffen, sind neue scharfe Debatten programmiert. Dabei hat die Schweiz ihre Neutralität seit dem Ende des Kalten Krieges zunehmend relativiert. Sie entsandte Militärbeobachter in verschiedene Krisengebiete, etwa nach Afghanistan. Im Kosovo ist sie seit 1999 mit dem Swisscoy-Kontingent sogar als Teil der NATO-Truppe KFOR präsent.
Der SVP als «Gralshüterin» der Neutralität ist dieser Einsatz seit langem ein Dorn im Auge. Parteipräsident Albert Rösti betonte gegenüber der «NZZ am Sonntag», eine Annäherung an die Sicherheitspolitik der EU komme nicht in Frage Die Schweiz solle im Gegenteil gegenüber Russland unabhängiger reagieren und nicht einfach EU-Sanktionen übernehmen.
Appeasement gegenüber Putin? So kann man Neutralität auch interpretieren.